Malerei in Wiesbaden
05–11–2017
Collaboration by Frank Witzel

Willi Baumeister, Mogador auf Violett, 1951. Courtesy: Museum Wiesbaden; photograph: Bernd Fickert

Dass Wiesbaden, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, nichts Besonderes zu bieten hatte in den Sechzigern, dass Wiesbaden langweilig war, eingerichtet auf die Bedürfnisse von Kurgästen und die Kaufgewohnheiten von Villenbesitzern aus dem Vordertaunus, ist eine Zuschreibung, die ich als Zwölfjähriger nicht habe treffen können, sondern erst im Nachhinein, nachdem ich Wiesbaden verlassen hatte, weshalb diese Zuschreibung vermutlich auch falsch ist oder zumindest unzureichend zur Beantwortung der Frage, warum ein Zwölfjähriger in seiner Freizeit regelmäßig das Landesmuseum aufsucht und anfängt, sich für Kunst zu interessieren.
Das Landesmuseum war ein gemütlicher, etwas düsterer Bau, in dem es allein galt, die hohe Eingangshalle mit ihren Marmorsäulen zu überwinden, um in einem Irrgarten von schmalen, holzgetäfelten Zimmern einzutauchen, fern vom Tageslicht, fern von Wilhelmsstraße und Kurpark, überhaupt fern von der sonstigen Welt des Alltags, der Schule, des Elternhauses und den Anforderungen des Aufwachsens. Vielleicht waren es zuerst gar nicht die Bilder, sondern die Räume, die ungestörte, gleichzeitig geborgene Atmosphäre, die mich anzog, denn an Wochentagen kamen nur wenige Besucher, obwohl der Eintritt frei war.
Das Landesmuseum bot in seiner Kunstsammlung einen guten Querschnitt der deutschen Kunstgeschichte, chronologisch aufgebaut und mit einem runden Nagelbild von Uecker endend. Die Bilder von Jawlensky wurden schon bald zu meinen Favoriten, besonders die seriellen Meditationen, in denen er mit wenigen Strichen immer wieder dasselbe Gesicht variiert. Anfänglich war ich natürlich mit allem zufrieden, was ich dort sah, denn außerhalb des Landesmuseums gab es Kunst nur in zwei Büchern meiner Eltern, eins über abstrakte und eins über gegenständliche Kunst. Die abstrakte Kunst blieb mir zunächst verschlossen, obwohl sich in meinen Alben mit Kunstpostkarten, die ich anzulegen begann, vor allem Werke von Baumeister und Nay fanden. Das lag aber nur daran, dass Kunst Schäfer in der Faulbrunnenstraße vor allem Postkarten von Baumeister und Nay führte, daneben Feininger und Kandinsky.
Ein anderer nicht unwesentlicher Einfluss, war der Bereich, dem man damals wohl Gebrauchsgrafik nannte. Es waren die Plattencover und Poster der Bands, deren Musik ich hörte, mit verschnörkelten und ineinanderfließenden Schriften. Der Vater meines Banknachbarn, Thomas Wilkens, war Grafiker und hatte das Signet für Weberkuchen entworfen.Von ihm erfuhr ich, dass man diese weich sich aneinanderschmiegende Lettern Popschriften nannte. Zusammen verzierten Thomas und ich während der Schulstunden unsere Bänke mit den Namen von Gruppen und Losungen wie Make love not war und Keep smiling in Popschrift. Zuhause malte ich dasselbe mit Pelikanfarben auf einen Zeichenblock.
Meine Eltern erkannten mein Talent als förderungswürdig und antworteten dem Aufruf einer Firma, die auf der Rückseite unserer Rundfunkzeitschrift nach Menschen suchte, die malen lernen wollten. An einem Nachmittag im April wurde ich ins Wohnzimmer gerufen, wo meine Eltern zusammen mit einem Vertreter der Famous Artists School am Tisch saßen. Der Mann schüttelte mir die Hand, holte ein paar Karten aus seiner Tasche und ließ mich zu einigen Farben die jeweils passende heraussuchen. Nachdem dieser Test ebenfalls Ansätze von Talent ermittelt hatte, füllte der Vertreter den Vertrag aus, den meine Eltern unterschrieben. Eine Woche später erhielt ich ein großes Paket. Darin befanden sich drei farbige Ordner mit den Lektionen der Famous Artists School, sowie ein schwarzer Ordner mit den Übersetzungen der englischen Texte der farbigen Ordner. In jeder Lektion wurden verschiedene Maltechniken vermittelt, die anschließend in einer Hausaufgabe angewandt werden sollten. Diese Aufgabe wurde an die Schule eingeschickt und kam mit persönlichen Korrekturen und Hinweisen zurück. Wahrscheinlich war meinen Korrektoren in der Famous Artists School nicht bekannt, dass es sich bei ihrem Schüler um einen dreizehnjährigen Jungen handelte, denn die strengen Ermahnungen und entsprechend flott neben meinen ungelenken Versuche, ein Glas oder einen Apfel abzuzeichnen, gesetzten Schattierungen fingen an, mich zu entmutigen. Dennoch fand ich es schade, als die Famous Artists School meinen Eltern nach wenigen Monaten mitteilte, dass sie ihren Betrieb einstellte. Der Grund war nicht meine Talentlosigkeit, sondern die mangelnde Bereitschaft bundesrepublikanischer Bürger, etwas aus ihren schlummernden Fähigkeiten zu machen. Auch die Konkursverwaltung bedauerte die Vorkommnisse, die eine Rückerstattung des von meinen Eltern vollständig entrichteten Betrages bedauerlicherweise unmöglich machten. Eine Firmenpleite in den Blütejahren der Republik, schon das roch nach Schiebung und Betrug, weshalb meine Eltern sich einer Selbsthilfegruppe weiterer betrogener Hobbykünstler anschlossen, die eine Sammelklage erwogen, jedoch diesen Plan bald aufgaben. Die Ordner der Famous Artists School lagen noch einige Zeit neben meinem Schreibtisch, und von Zeit zu Zeit blätterte ich in ihnen, verlegte mich jedoch wieder verstärkt auf die selbständige Erforschung der Kunstwelt.

Eva Hesse, o.T., 1965. Courtesy: Museum Wiesbaden; photograph: Bernd Fickert

Zusammen mit meinem Freund André Hetke hatte ich mittlerweile den Surrealismus entdeckt. In Wiesbaden hatte sich auch einiges bewegt, die Wartburg war entstanden, wo ich regelmäßig Xhol, Embryo, Sixty-Nine und andere Gruppen hörte. Sixty-Nine wurden für ihre erste und einzige Platte von Barbara Klemm fotografiert, aber das erfuhr ich erst später. Am Neroberg gab es ein Teehaus, wo mir André Bilder zeigte, die er auf Trip gemalt hatte. Ein Türgriff verwandelt sich in einen Donald Duck Kopf. Darum ging es, um die Auflösung unserer spröden kleinbürgerlichen Realität. Und das konnte nur die Kunst. Brennende Giraffen, die Begegnung von Schulranzen und Wackelbildchen auf dem Seziertisch. Ich sparte für eine Staffelei, kaufte in einem Laden für Künstlerbedarf Ecke Ellenbogengasse ein, und ließ meiner Phantasie freien Lauf. André und ich kamen in eine pointilistische Phase, in der wir alle Formen in Punkte auflösten, die wir mit 0,25 Rotring Rapidographen auf Zeichenkarton setzten. Meine schulischen Leistungen bewegten sich jedoch umgekehrt proportional zu meiner künstlerischen Entwicklung, und nachdem ich zum zweiten Mal die zehnte Klasse durchlaufen hatte, deuteten die Lehrer an, dass ich mit der von mir perfektionierten Mischung aus Aufsässigkeit, Faulheit und genialischen Flausen in der Oberstufe keine Chancen mehr haben würde.
Im Teehaus hatte ich von einigen Leuten gehört, dass man im Berufsschulzentrum an der Berliner Straße eine neue Oberstufe für Gestaltung eingerichtet habe. Völlig locker gehe es dazu, den ganzen Tag nur malen, filmen und rumexperimentieren. Ich meldete mich sofort an. Allerdings hatte sich der Ruf dieser Oberstufe inzwischen im ganzen Rhein-Main-Gebiet verbreitet, und so strömte es aus sämtlichen Teehäusern der Region nach Wiesbaden, wo man im Gegensatz zum Gründungsjahr nun eine Aufnahmeprüfung abhielt, um aus den 300 Bewerbern zwei Klassen à 25 zu rekrutieren. Auch hier musste ich neben dem Erbringen der üblichen schulischen Leistungen erneut harmonisierende Farben zuordnen, ich orientierte mich diesmal an den verschiedenen buntgestreiften Pullundern, die meine Mitprüflinge trugen. Schließlich wurde mir ein Blatt vorgelegt, auf dem ein stilisiertes Zimmer dargestellt war. Die Aufgabe bestand nun darin, dieses Zimmer mit alldem einzurichten, das man für wichtig erachtete. Ich zeichnete kurzerhand große Löcher in die Wände und malte dahinter eine meiner surrealistischen Landschaften. Während man André ablehnte, wurde ich angenommen. André verpflichtete sich daraufhin für 12 Jahre bei der Marine.
Der Unterricht war wirklich anders als auf dem Gymnasium, jedoch auch nicht richtig locker. In Malen und Film hatten wir einen Künstler namens Herr Müller, der mit wirrem Haupthaar durch die Gänge lief und davon sprach, dass niemand ihn verstehe und, wenn wir so weitermachen würden, etwa im Flur rauchen, er nach Fulda strafversetzt würde. Worunter er jedoch noch mehr litt, war unsere kleinbürgerlich verklemmte Haltung. Um Künstler zu werden, musste man sich nämlich vor allem befreien. Und vor allem die Schülerinnen mussten sich befreien. Zu diesem Zweck zeigte Herr Müller Normalacht Filme, die er mit dem ersten Jahrgang der neuen Oberstufe aufgenommen hatte. Man sah halb und auch ganz nackte Mädchen über die Wiese des Biebricher Schlossparks laufen. Seinerzeit habe man frei arbeiten können, jetzt allerdings saßen zu Herrn Müllers großer Enttäuschung nur prüde Kleinbürger-Wichtel vor ihm, die jeglichen künstlerischen Ansatz im Keim erstickten, etwa die auf dem alten Friedhof an der Platterstraße gefilmte Szene, in der ein Mädchen in einem Negligé mit einer Rute auf einen Grabstein eindrischt. »Seht ihr, was ich meine?«, fragte Herr Müller und hielt den Film beim Betrachten im abgedunkelten Klassenzimmer an. Er lief nach vorn zur Leinwand und deutete auf den unter dem Negligé sichtbaren Slip des Mädchens, der die künstlerische Aussage des Werkes in seinen Augen zunichte machte. »So kann man einfach nicht arbeiten«, schrie er und entließ uns an diesem Nachmittag eine Stunde früher.

Paul Klee, Ohne Titel (Mit Heinrich Kirchhoff am Rhein), undatiert. Courtesy: Museum Wiesbaden; photograph: Bernd Fickert

In ruhigeren Stunden brachte uns Herr Müller die Konstruktion einer Normblockschrift, sowie der 15 Grad geneigten Schreibschrift bei. Gerade mit dieser Schreibschrift, sagte er, könnten wir uns jederzeit unser Studium verdienen, denn jeder Lebensmittelhändler sei begierig darauf, seine Waren auf Plakaten mit Hilfe einer solchen künstlerisch wertvollen Schreibschrift angepriesen zu sehen. Unsere Aufgabe zur praktischen Anwendung des Erlernten bestand zunächst darin, Schreib- und Blockschrift in einen plakativen Zusammenhang zu bringen. Dazu mussten wir das Wort Chancengleichheit in Schreibschrift an die obere Kante eines Din A 1 Bogens setzen, während am unteren Ende in Blockschrift Gesamtschule, ein Projekt der damaligen hessischen SPD Regierung, zu lesen war. Bis zum Abend vor dem Abgabetermin war mir immer noch keine zündende Idee gekommen, mit der ich Gesamtschule und Chancengleichheit graphisch in eine sinnvolle Beziehung hätte setzen können.
Ich saß mit meinem Pelikanfarbkasten vor dem riesigen Bogen, als mein kleiner Bruder im Schlafanzug und barfuß durchs Zimmer ging. Die Idee war geboren. Ich malte seine Fußsohlen rot an und ließ ihn von unten nach oben über das Plakat laufen. Die Erklärung für meine 1 lieferte Herr Müller selbst: Rot als Signalfarbe, die Nacktheit der Füße als Symbol kindlicher Unschuld und natürlicher Gleichheit, von unten nach oben, in aufsteigender positiver Linie von der Gesamtschule zur Chancengleichheit. Ich konnte mich nicht richtig über die Note freuen, da mir das ganze künstlerische Agieren anfing, in seiner naiven Willkür suspekt zu werden.
Die Jahre vergingen, wir töpferten, malten, fotografierten und filmten, lernten Bilder zu interpretieren, indem wir auf Form und Gegenform, Fluchtpunkte, Kreisbewegungen und andere Feinheiten achteten. Ich lernte mich schon bald der Formeln zu bedienen, welche die Lehrer hören wollten, denn das ersparte eine Menge Arbeit. Während andere etwa viele Nachmittage darauf verwandten, Marionetten für ein Puppenspiel herzustellen, haute ich in letzter Minute mit einem Freund ein Skript zusammen, in dem sich ein Napalmbombenentprüfer bei seinem Chef wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrung im Betrieb beklagt. Während er redet, zerfällt er zu atomaren Staub, während der Chef, dargestellt durch einen nackten Hintern, ungerührt eine Zigarre nach der anderen raucht. Lehrer Dettke, ein Freund des Grafikers Klaus Staeck, fand diese Idee super und bestand nicht weiter auf der zugegebenermaßen komplizierten Umsetzung des Ganzen.
Es war eine recht unbeschwerte Zeit, nur mein Interesse für die Kunst fing an, zu verblassen. Schließlich machten wir unser Abitur und wurden Mitte der Siebziger Jahre mit dem ersten Rüstzeug des Künstlers zum Studium entlassen. Ich zog nach Frankfurt. In einer Dachstube im Riederwald über meiner kleinen Wohnung stellte ich meine Staffelei auf und legte die Rapidographen auf einen schmalen Tisch. Im Sommer saß ich öfter dort oben und zeichnete Portraits meiner Freundin und die hohen Platanen, die man aus dem kleinen Mansardenfenster sehen konnte. Die Frage, was Kunst sein soll oder können soll oder überhaupt sein kann, hatte ich vergessen. Ich studierte Sozialarbeit, schrieb Gedichte und ging auf Demos. Es vergingen mehr als zehn Jahre, bevor ich zum ersten Mal das Städel besuchte. Ich hatte mich in eine Frau verliebt, die dort als Aufsicht arbeitete. Aber das ist ein anderes Kapitel meiner Kunstgeschichte.
Frank Witzel kuratiert die 20. Wiesbadener Literaturtage 2017.