Performing Memory
Eleni Wittbrodt
19–12–2016
Artist text
Commissioned photography by Neven Allgeier
Unser Blickfeld ist ein Gefäß. In allem was wir sehen, ziehen wir Grenzen und definieren eine Innenseite und eine begrenzende Oberfläche. Es gibt vermutlich wenig menschliche Instinkte, die grundlegender sind als die Orientierung nach territorialen Kategorien.
In den 90er Jahren formulierten der Linguist George Lakoff und der Philosoph Mark Johnson in ihrem Buch „Living in Metaphors“ die These, dass Metaphern mehr sind als ein rhetorisches Mittel. Ihrer Ansicht nach bestimmen Metaphern grundlegende Züge unserer Wahrnehmung und Wirklichkeit. Das Gefäß als Metapher für ein Verständnis vom Raum stammt ebenso von den beiden Herren.
Letztes Jahr hat Eleni Wittbrodt in mehreren Ausstellungen großformatige Zeichnungen von Gefäßen gezeigt. Diese Zeichnungen erinnern den Betrachter allein durch ihr Sujet an die „natura morta“ von Giorgio Morandi. Während Morandis Darstellungen von Gefäßen stets in Gruppenformationen auftreten, bleiben die Gefäße bei Wittbrodt alleine. Selbst wenn zwei Gefäße nebeneinander darstellt sind, so wird man den Eindruck nicht los, dass sich eins von beiden auf das Papier verirrt hat und das Weite suchen möchte. Die Bilder Morandis, berühmt für ihren spröden Farbauftrag, lassen in diesem ihre Konturen verschwimmen. Die statischen Objekte wirken dadurch beweglich, fast organisch und stellen die Definition dessen, was wir traditionellerweise als Stillleben verstehen, in den Schatten. Dahingegen sind es gerade die Konturen, die bei Eleni Wittbrodts Darstellungen eine tragende Rolle einnehmen – bestehen diese Zeichnung meist nur aus diesen Linien, die mit Tusche auf Papier aufgetragen wurden. Diese Linien sind aber keinesfalls geometrisch ausgeführt, sondern sind vielmehr das Protokoll einer Bewegung. Man sieht ihnen die Schnelligkeit an, in der sie entstanden sind. Indem die Eleni Wittbrodt diese Zeichnungen auch noch auf Haufen stapelt, wirken sie wie ein ganzes Archiv an Gesten. Der Betrachter blickt nicht auf Zeichnungen, die sorgfältig gerahmt an die Wand gehängt sind, sondern auf Stapel, die auf dem Boden zerstreut liegen. Blätter, die aufeinanderliegen und sich überlagern. Eine Reihe von Reihungen und das Potential von unendlichen Ordnungssystemen, wenn es diese denn wirklich gibt. Fast wirkt es, als ob die Zeichnungen nur zufällig dort liegen und jemand sie gleich abholen wird, um sie an einen anderen Ort zu bringen. Obwohl sie den Raum einnehmen, wird ihnen somit eine eigentümliche Form von Präsenz zu teil, die man für gewöhnlich nicht mit bildhauerischen Arbeiten in Verbindung setzen würde: Indem die Zeichnungen auf dem Boden liegen, schwebt der Blick über ihnen auf der Suche nach etwas, woran er sich auf Augenhöhe festhalten kann. Doch genau darin liegt der Clou dieser Arbeit.
Der Begriff „Blickfeld“ impliziert bereits die territoriale Begrenzung unseres Sehens. Eleni Wittbrodts Arbeiten widmen sich genau dieser Grenzziehung und versuchen ihm Abhilfe zu verschaffen. Der Blick braucht einen Bezugspunkt, der auf ihn zukommt und ist irritiert, wenn er diesen nicht vorfindet. Diese Zeichnungen wollen keine Orientierung bieten, sondern den Blick für mehr öffnen. In der gleichen Weise wie man ein Handy oder ein Buch betrachten und gegebenenfalls wieder weglegen kann, wollen die Zeichnungen von Eleni Wittbrodt betrachtet werden. Sie sind keine allansichtige Skulptur, die es gilt gekonnt im Raum zu platzieren, damit sie studierbar wird. Die Qualität dieser Zeichnungen liegt darin, dass sie nicht selbstreferentiell sind, sondern stets auf mehr verweisen als es auf den ersten Blick scheinen mag. Sie stellen einen Übersetzungsmodus unserer Wirklichkeit dar und öffnen unser Blickfeld für das, was außerhalb von ihm liegt. Indem Eleni Wittbrodt ihre dargestellten Gegenstände von Gefäßen bis hin zu Grundrissen weiterentwickelt, verweist sie damit wieder zurück auf unser Verständnis von Raum und formt zusätzlich ihre Arbeiten aus dem ältesten Material, das es in der Kunstgeschichte gibt: ihrer Umgebung.