„What’s Art Got to Do With it?“
Pia-Marie Remmers
11–05–2022
by Ramona Heinlein

Ramona Heinlein: Liebe Pia, vom 22.–28. August 2022 veranstaltest du in Bathorn im Emsland „What’s Art Got to Do With it?“, eine Summer School zum Thema Kunst und kollektive Erinnerung. Die Veranstaltung nimmt ihren Ausgang in der Skulptur Ein Weg durch das Moor (1999) von Peter Fischli und David Weiss, die sich in dem Waldgebiet hinter dem ehemaligen NS-Strafgefangenenlager Bathorn (1933-1945) befindet. Dort wurden zunächst vor allem politische (sozialistische und kommunistische) Gefangene und später Kriegsgefangene aus der Sowjetunion und Frankreich sowie dessen Kolonien inhaftiert. Bevor wir über dein Konzept und die Inhalte sprechen, würde ich dich gerne nach deiner persönlichen Erfahrung mit diesem Ort fragen. Die Geschichte des Nationalsozialismus steckt sehr konkret, sehr körperlich in den Häusern, und in den Landschaften und in den Familien, in denen wir aufwachsen und bleibt dabei doch häufig latent, theoretisch, fern. Du lebst in Berlin, kommst aber aus Lingen, eine halbe Autostunde von Bathorn entfernt. Wusstest du als Kind und Jugendliche um die Geschichte dieses Gefangenenlagers – und kanntest du die Skulptur von Fischli & Weiss? Ist dieses Projekt für dich auch eine Art des „Nach-Hause-Kommens“ beziehungsweise einer neuen Auseinandersetzung mit der Region, in der du groß geworden bist?

Pia-Marie Remmers: Die Emslandlager, es waren insgesamt 15, kamen in meinem Geschichtsunterricht an einem lokalen Gymnasium nicht vor. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und insbesondere an den Holocaust haben mich schon früh interessiert und in meiner Familie immer eine sehr präsente Rolle gespielt. Dennoch wurden sie immer mit weit entfernten Orten oder Opfergruppen assoziiert, die nicht unmittelbar mit unserer Region in Verbindung stehen. Das ist mir erst bewusst geworden, als ich weggezogen und aus der Distanz zurückgeblickt habe. Die Skulptur von Fischli & Weiss kenne ich seit 2017 und sie ist seitdem ein wichtiger Ort für mich geworden, den ich oft besuche, wenn ich in die Heimat fahre. Mit der Zeit habe ich dabei erkannt, wie weit unsere in urbanen Räumen und intellektuellen Blasen geführten Diskurse von einer tatsächlich gelebten Erinnerungskultur im ländlichen Raum entfernt sind. In beiden Sphären gibt es viel Wissen, aber auch Leerstellen, die man gemeinsam füllen könnte, um Erinnerung aktiv zu gestalten und immer wieder an aktuelle gesellschaftliche Veränderungen und neue Erkenntnisse anzupassen.

Moorsoldaten, Bathorn © kunstwegen

RH: Möchtest du für unsere Leser*innen, die Bathorn und auch die Skulptur von Fischli & Weiss nicht kennen, erst einmal kurz etwas zur Erfahrung vor Ort erzählen: Was ist der historische Hintergrund, wie sieht es heute dort aus und wie fügt sich die Skulptur hier ein?

PR: Bathorn ist eine sehr kleine Wohnsiedlung, die eigentlich nur aus etwa zehn Häusern besteht. Diese befinden sich exakt dort, wo die Baracken des ehemaligen Stalag XIV Bathorn standen. Rundherum gibt es nur flaches Land, das bis Anfang des letzten Jahrhunderts fast ausschließlich aus Moorflächen bestand und dünn besiedelt war. Die Nationalsozialist*innen hatten den Plan, dieses Gebiet wirtschaftlich nutzbar zu machen und „arische“ Siedler*innen, sogenannte Neubauern aus dem Osten des Reiches, hier hin umzusiedeln. Dies war Teil ihres großangelegten Projekts der „inneren Kolonisierung“, das wiederum an ihre sogenannte Blut-und-Boden-Ideologie angegliedert war. Die Häftlinge in den Lagern wurden zur Arbeit im Moor gezwungen, um es trocken zulegen und Torf zu gewinnen, der damals für die Energieversorgung genutzt wurde. Die politischen Häftlinge, die bis zum Kriegseintritt die größte Gruppe der Gefangenen in den Emslandlagern ausmachten, bezeichneten sich deshalb selbst als „Moorsoldaten“. An diese gleichzeitige Ausbeutung von Mensch und Natur knüpft das Werk von Peter Fischli und David Weiss an. Es befindet sich in einem heutigen Waldgebiet, etwas abseits von Bathorn, in dem noch die Spuren der Trockenlegung zu sehen sind. „Ein Weg durch das Moor“ entstand 1999 und besteht aus einem 1,2 km langen Holzbohlenweg, der – mit einem Quäntchen Ironie, wie wir es von dem Künstlerduo gewohnt sind – an die klassischen Moorerlebnispfade erinnert. Dabei verfügt er jedoch über keinerlei Beschilderungen und ist durch seine schmalen Planken, ohne rutschfesten Belag und die sehr unterschiedlichen Abstände zum Untergrund nicht immer leicht zu begehen ist. Mich hat von Anfang an fasziniert, wie Natur und Geschichte hier ineinandergreifen, und Raubbau und Gewaltherrschaft gleichzeitig verhandelt werden. Aber auch, und vor allem, wie der verschlungene und zum Teil lückenhafte Pfad als bildhafter Verweis auf die nicht-linearen und stets unvollständigen Prozesse kollektiven Erinnerns gelesen werden kann.

Peter Fischli und David Weiss, Ein Weg durch das Moor (1999)

RH: Teil des Programms deiner Summer School ist die Instandsetzung der Skulptur, sprich, das Reparieren und Konservieren vor Ort – eine Form der kollektiven Care-Arbeit könnte man sagen. Ich mag diese Idee, weil ja gerade auch das Sich-Erinnern nicht nur ein gedanklicher, sondern auch ein körperlicher Prozess ist, der mit Gerüchen, Geräuschen, Gefühlen zu tun hat. Wieso hältst du dieses Sich-Sorgen um das Werk und die körperliche Auseinandersetzung mit dem Material für wichtig?

PR: Vorab muss gesagt sein, dass der Einfluss der Witterung und der Prozess des Verfalls explizit Teil des Werkes sind. Die Künstler haben sich bewusst dazu entschieden, auf langlebige Metallstützen oder einen schützenden Lack zu verzichten, sodass die Spuren der Natur im Laufe der Zeit im Werk sichtbar und spürbar werden. Dennoch soll der Pfad nicht gänzlich verfallen, weshalb kunstwegen, die für das Werk verantwortliche Organisation, einmal jährlich die Stellen ausbessert, die am stärksten zerstört sind. Hierbei wollen wir sie während der Summer School einen Tag lang unterstützen. Ziel ist es, der Skulptur und ihrer Umgebung auf einer physischen, non-verbalen Ebene näher zu kommen. Meiner Meinung nach kommt in diskursiven Formaten wie Summer Schools, Seminaren oder Symposien das aktive Handeln oft zu kurz. Die jeweiligen Themen werden auf einer intellektuellen Metaebene besprochen, ohne dass man wirklich mit ihnen in Kontakt tritt. Die praktische Instandhaltungsarbeit an der Skulptur soll die Möglichkeit bieten, den Ort und die einzelnen Komponenten des Werkes wirklich kennenzulernen, sich einen eigenen Zugang zu schaffen, eine Verbindung aufzubauen aus der heraus womöglich Gedanken und Gespräche entstehen, die für das weitere Programm und die daran anknüpfenden Diskurse fruchtbar sein können.

RH: Die Skulptur von Fischli & Weiss gibt es seit 1999. Warum glaubst du, sollte jetzt ein neuer Blick auf diese Skulptur, aber auch auf die Geschichte des Gefangenenlagers in Barthorn geworfen werden?

PR: Geschichte wird permanent neu geschrieben. Sie verändert sich kontinuierlich, wie auch das, was wir „unsere Erinnerungskultur“ nennen. Im Emsland und in der Grafschaft Bentheim, den heutigen Landkreisen, in denen die ehemaligen Lager betrieben wurden, wurden die eigenen Verstrickungen mit dem NS-Regime lange verschwiegen und unter den Teppich gekehrt. Das lag auch daran, dass hier vor allem politische Häftlinge aus dem linken Spektrum inhaftiert gewesen sind. In der Bundesrepublik wurden diese Opfergruppen jahrzehntelang nicht anerkannt. Erst in den 1990er-Jahren, nach der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges, wurden Zugeständnisse gemacht. Ich finde es spannend, dass die Skulptur von Fischli & Weiss bereits 1999 errichtet wurde, die offizielle Gedenkstätte für die 15 Emslandlager allerdings erst 2012. Wie hat sich Erinnerungskultur in diesem Zeitraum verändert? Wieso mussten Historiker*innen wie Kurt Buck jahrzehntelang um die Anerkennung und einen Ort für die Aufarbeitung der lokalen Lagergeschichte kämpfen, während ein Kunstprojekt, das ebenfalls auf die Thematik eingeht, schon 13 Jahre früher und ohne große Widerstände errichtet werden konnte? Diesen Fragen wollen wir in einem gemeinsamen Gespräch mit Kurt Buck und Roland Nachtigäller, Kurator und Organisator des Projekts kunstwegen, nachgehen. Dabei soll auch unsere heutige Perspektive auf diese Dinge eine Rolle spielen. Wie schauen wir im Hinblick auf aktuelle Debatten über eine multidirektionale Erinnerung auf das Werk und die Geschichte im Emsland? Welche Opfergruppen waren in den Lagern neben den politischen Häftlingen vertreten? Ich denke hier auch an die Jüdinnen und Juden der Region, Homosexuelle sowie die Schwarzen Kriegsgefangenen aus den ehemaligen französischen Kolonien. Was spielt die Zerstörung und Ausbeutung der Natur für eine Rolle und wie steht sie, zusammen mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in einer historischen Kontinuität mit, zum Beispiel, dem deutschen Kolonialismus oder aktuellem rechten Terror?

RH: Gerade in den letzten Jahren hat sich in den Debatten um kollektive Erinnerung viel getan: Das Geschichte und Erinnerung nicht „natürlich“ gegeben, sondern gemacht sind, tritt immer mehr ins Bewusstsein und damit Fragen wie: Wer ist Autor*in dieser kollektiven Erinnerung, wer spricht?

PR: Tatsächlich muss Erinnerung als etwas anerkannt werden, das in Bewegung ist. In den letzten Jahren wurde der Diskurs durch viele neue Perspektiven erweitert. Diese Prozesse verlaufen aber nicht ohne heftige Debatten und Kämpfe um Deutungshoheit ab. Mir war es bei der Konzeption des Programmes wichtig, ein vielstimmiges Bild künstlerischer und kuratorischer Praxis abzubilden und dabei ganz bewusst unterschiedliche Geschichten und Erinnerungen miteinzubeziehen, die alle Teil der deutschen Nachkriegsgesellschaft sind, ohne den Bezug zur Geschichte des Ortes zu verlieren. Erst durch das Zusammendenken von diversen Erfahrungen und Perspektiven können wir wirklich von einer kollektiven Erinnerung sprechen, die alle mit einbezieht. Dabei geht es um die Frage, wer aktiv an Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur teilhaben kann, und wer zu einem Objekt innerhalb des Diskurses stilisiert wird oder einfach bei dem mitmachen muss, was von anderen festgeschrieben wird. Das erfordert durchaus den Mut, sich kritisch mit der eigenen Rolle innerhalb der Gesellschaft und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen und sich einem hohen Grad von Komplexität zu stellen.

Bathorn © kunstwegen

RH: Du hast für das Programm der Summer School unter anderem die Künstlerin Talya Feldman eingeladen, die zum Thema der Betroffenenperspektive sprechen wird. Aber auch James Gregory Atkinson, der sich mit der Repräsentation von queerer und schwarzer Geschichte beschäftigt, veranstaltet einen Workshop. Kannst du etwas zum Programm und den Überlegungen dahinter erzählen?

PR: Talya Feldman geht es in ihrem Workshop um den medialen Umgang mit Betroffenen von rechtem Terror. Es ist erschreckend zu sehen, dass Täterinnen immer noch häufig eine größere Plattform bekommen als Überlebende, in dem man zum Beispiel ihre Namen in Berichterstattungen explizit erwähnt. Den Betroffenen zuzuhören und ihre Bedürfnisse in gesellschaftliche Prozesse des Aufarbeitens und Erinnerns miteinzubeziehen klingt so naheliegend, ist aber noch längst nicht selbstverständlich. James Gregory Atkinson ist ein afroamerikanisch-deutscher Künstler, der sich unter anderem mit der Geschichte Schwarzer Soldaten in Deutschland und deren Nachkommen auseinandersetzt. In seinem Workshop soll es darum gehen, Archive und die Geschichtsschreibung einer Mehrheitsgesellschaft kritisch zu durchleuchten, sich selbst innerhalb dieser Prozesse zu verorten und sie um intersektionale Narrative zu erweitern. Es wird darüber hinaus auch eine Lesung von Anna Langhoff geben, deren Großvater den bekanntesten Zeitzeugenbericht über die Emslandlager schrieb, sowie eine Gesprächsrunde mit lokalen Akteurinnen, die sich vor Ort, zum Teil seit Jahrzehnten, für die Erinnerung an jüdische Gemeinden einsetzen oder die Umbenennung von Straßennamen erkämpfen. Eugene Yiu Nam Cheung stellt für die Summer School außerdem ein Filmprogramm zusammen, das sich mit der Entstehung und der Kontinuität faschistischer Strukturen in einem globalen Kontext auseinandersetzt. Juliane Bischoff schaut in ihrem Workshop aus einer kuratorischen und institutionellen Perspektive auf die Ästhetik von Erinnerungskultur und wie Künstler*innen in bestehende Geschichtsbilder intervenieren. Friedemann Heckel hat Sitzmöbel gestaltet, die wir im Klostergarten aufstellen werden und die uns als Mobiliar für die Workshops, als temporäre Bibliothek sowie als Rückzugsort während der Summer School dienen werden. Außerdem planen wir eine Performance, die auf die natürliche Umgebung der Skulptur eingeht und sie in Verbindung mit der gewaltvollen Geschichte des Lagers bringt.

RH: Gerade mit dem jüngsten Krieg Russlands in der Ukraine zeigt sich einmal mehr, wie stark Geschichte verzerrt und zu Macht- und Gewaltzwecken instrumentalisiert wird. Aber auch die Konflikte im Zuge der Corona-Krise und die damit verbundenen Verschwörungstheorien, die häufig rassistischer und antisemitischer Natur sind, zeigen, wie ideologisch Erinnerung ist. Hier gilt es den Nebel buchstäblich „aufzuklären“, zu bilden, zu korrigieren, Gefühltem mit Fakten zu begegnen, präzise zu sein – sprich historische und politische Bildung. Nun liefert ein Werk, wie das von Fischli & Weiss aber ja keine Fakten oder historische Dokumentation zur Geschichte des Ortes. Worin siehst du hier das Potential oder gar die Aufgabe der Kunst? Oder anders gefragt: „What’s Art Got to Do With it?“

PR: Genau dieser Frage wollen wir im Rahmen der Summer School nachgehen, auch wenn wir sie wohl nicht abschließend werden beantworten können. In der Kunst zeichnen sich Dinge ab oder werden an die Oberfläche geholt, die noch im Unbewussten der Gesellschaft liegen oder explizit dorthin verdrängt werden. Mit Hilfe von ästhetischen Prinzipien kann der Status quo in Frage gestellt und Komplexität sinnlich und damit potentiell als etwas Positives erfahrbar gemacht werden. Das kann natürlich sehr unterschiedliche Formen annehmen und muss nicht immer vordergründig im Werk angelegt sein. Im Hinblick auf die aktuelle Situation eines Krieges in Europa, kann die Kunst durchaus nebensächlich erscheinen, insbesondere wenn man bedenkt für wie wenige Leute sie letztlich zugänglich ist. Aber langfristig ist sie, davon bin ich überzeugt – und dazu tragen vor allem Werke im öffentlichen Raum wie Ein Weg durch das Moor bei –, eine Stütze, um als Gesellschaft sensibel, empathisch und (selbst-)kritisch zu bleiben.

Pia-Marie Remmers, Foto: Robert Hamacher

Pia-Marie Remmers ist Kunsthistorikerin, Kuratorin und Initiatorin von What’s Art got to do with it? Eine Summer School zu Kunst und kollektiver Erinnerung, die vom 22.–28. August 2022 in Bathorn, Niedersachsen stattfindet.

"What's Art Got To Do With it?": Eine Summer School zu Kunst und kollektiver Erinnerung
22.–28. August 2022 in Bathorn

Anmeldung bis zum 31.05.2022 unter https://whatsartgottodowithit.de/