Die elende Magie von Laurence Sturlas Maschinen
Through Tongue and Soil
GIANNI MANHATTAN, Wien
25–02–2022
by Ramona Heinlein

Wie Querschnitte aus dem Inneren einer wundersamen Apparatur, wie ein fantastischer Motor bei der Operation am offenen Herzen, wie das Skelett einer ausgestorbenen Kreatur aus einem fernen Maschinenzeitalter… so sehen die Skulpturen in Laurence Sturlas Soloschau Through Tongue and Soil bei GIANNI MANHATTAN aus. Die Arbeiten sind auf drei exakt hintereinander angeordneten, weißen Sockeln platziert. Einzelne Formelemente wiederholen sich und doch bewahrt jedes Objekt eine geradezu eklektisch anmutende Einzigartigkeit. Aus der Distanz strahlt die akkurate Inszenierung eine nüchterne Wissenschaftlichkeit aus. Nähert man sich jedoch den einzelnen Skulpturen – umrundet diese und beugt sich herab, um durch die verschiedenen Öffnungen und Durchsichten zu blicken – öffnet sich in dem klar strukturierten Raum ein nahezu apokalyptisches Dickicht aus Schichten, Formen und Farben, das schwindlig macht.

Laurence Sturla, 'Through Tongue and Soil', 2022, exhibition view, GIANNI MANHATTAN, Wien. Courtesy: the artist and GIANNI MANHATTAN; photograph: kunst-dokumentation.com

Sturla, geboren in Swindon (UK), ist gewissermaßen mit den materiellen und ideologischen Überresten der Industrialisierung aufgewachsen. Seine Maschinenfragmente modelliert er nicht nach bestimmten Vorbildern, sondern nach skizzenhaften oder vielmehr „falschen“ Erinnerungen an Fabriken und Schiffswerften, kombiniert mit Elementen aus älterer und jüngerer Industriegeschichte. Die streng konstruierten Kompositionen verfügen über eine symmetrische Grundstruktur, die sich vom Zentrum aus nach links und rechts auffächert und dabei immer wieder von unvorhergesehenen Ein- und Ausbrüchen durchzogen ist. Von der Seite betrachtet wuchern die Formen teils chaotisch auseinander, türmen sich auf und bilden fragmentarische Arabesken. Stege führen zu Rohren und Öffnungen, verschlungene Stellen treffen auf geometrische Kanten. Sturla kombiniert die kühle Präzision des Technisch-Maschinellen mit organischen Windungen, die die Wärme der formenden Hand noch gespeichert zu haben scheinen und eine erstaunliche Unmittelbarkeit ausstrahlen. Vermeintlich unbearbeitete Stellen aus Materialbatzen wirken dagegen wie natürlich gewachsen. In ihrer schlotzigen Formlosigkeit haben sie etwas Elendes, fast Tragisches an sich und evozieren zugleich eine rohe Energie.

Laurence Sturla, 'Through Tongue and Soil', 2022, exhibition view, GIANNI MANHATTAN, Wien. Courtesy: the artist and GIANNI MANHATTAN; photograph: kunst-dokumentation.com

Sturlas detailreiche Formen sind von einer porösen, braunen Schicht überzogen. An aufgeplatzten Stellen legt diese das Rot des eisenhaltigen Tons frei und bedeckt ihn woanders wie eine sandige Haut – darüber weiße Schlieren wie Gezeitenlinien nach der Flut. Durch diese Sedimentierung der verkrusteten Oberflächen scheint es fast so, als hätte sich das Material die Maschinenform einverleibt. Hierbei offenbart sich Sturla als Bildhauer, der sein Material bis ins Detail kennt und gleichzeitig den Mut hat, es in seiner Selbsttätigkeit wirksam werden zu lassen. Der Entstehungsprozess der Skulpturen basiert auf einer intensiven physischen und experimentellen Auseinandersetzung mit dem Ton sowie seinen Reaktionen im Zuge des Brennvorgangs. Per Hand formt der Künstler seine Skulpturen, die anschließend – in eine Mischung aus flüssigem Ton getaucht – bei besonders hoher Temperatur gebrannt werden. Am Ende legt Sturla die Objekte in hochkonzentrierte Salzbäder ein. Der Ton absorbiert die Flüssigkeit und das Wasser verdunstet langsam, sodass sich weiße Spuren auf dem Material bilden. Ein Prozess, der nur bedingt kontrolliert werden kann – der Künstler überlässt seine Skulpturen buchstäblich dem Salz.

Laurence Sturla, 'Through Tongue and Soil', 2022, exhibition view, GIANNI MANHATTAN, Wien. Courtesy: the artist and GIANNI MANHATTAN; photograph: kunst-dokumentation.com

Diese Herangehensweise basiert sowohl auf einer handwerklichen als auch einer konzeptuellen Auseinandersetzung des Künstlers mit der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bedeutung von (historischen) Keramikobjekten. Schließlich ist es kein Zufall, dass die Präsentation die Skulpturen wie Fundstücke oder Ausgrabungen auf einem Labortisch anmuten lässt. So handelt es sich gerade bei der Behandlung mit Salzlösungen um eine Methode aus der Archäologie, um das Alter von Keramikartefakten zu bestimmen. Diese nehmen sofort nach dem Brennvorgang die Feuchtigkeit ihrer unmittelbaren Umgebung auf und sind deshalb durch verschiedene Verfahren exakt datierbar. Daher können Keramiken sowohl im physikalischen wie auch im übertragenen Sinne als Container verstanden werden, der Material – aber auch Zeit – zu speichern vermag und daher eine zentralen Stellenwert in der Konstruktion von kollektiven Narrativen und Identitäten einnimmt.

Laurence Sturla, 'Through Tongue and Soil', 2022, exhibition view, GIANNI MANHATTAN, Wien. Courtesy: the artist and GIANNI MANHATTAN; photograph: kunst-dokumentation.com

Während die gemeine Wissenschaftlerin die Salzlösung verwendet, um die Vergangenheit fassbar zu machen, Erinnerung zu fixieren und Geschichte zu rationalisieren, stellt Sturla diese Technik auf den Kopf, um die Skulpturen aus einer vermeintlich sicheren Gegenwart überhaupt erst in eine unbekannte Vergangenheit zu katapultieren – eine Vergangenheit, die fundamental unklar und bewegt bleiben muss. So wirken Sturlas salzige Skulpturen seltsam entrückt. Sie scheinen aus unergründlichen Ewigkeiten isoliert, aus den Tiefen des Ozeans geborgen, wie Fossilien aus Gesteinsschichten herausgeschlagen worden zu sein. Trotz der Faktizität ihrer überbordenden Materialität haben sie etwas Unwirkliches, Mystisches an sich. Dabei geht deren Auflösung einer linearen anthropozentrischen Zeitlichkeit auch mit einer Entgrenzung von Maßstab und Raum einher. Je nach Perspektive und Entfernung wirken die Objekte wie die labyrinthische Architektur eines riesigen Industriekomplexes, wie das Raumschiff eines Sci-Fi-Films, wie die Glieder einer knöchernen Dinosauriers oder wie die ausgetrocknete Oberfläche eines fernen Planeten.

Laurence Sturla, Through Tongue and Soil (Murmuration) (back), 2022, overfired stoneware ceramic, salt, metal fixings. Courtesy: the artist and GIANNI MANHATTAN; photograph: kunst-dokumentation.com

Trotz ihrer schlammigen Kruste haftet diesen Arbeiten eine traumhafte Eleganz an, die an romantische Ruinen und die Sehnsucht nach vergessenen Zeiten erinnern mag. Künstliche Ruinen wurden bereits im 19. Jahrhundert und früher geschaffen. Während sich in deren ästhetisierten Brüchen jedoch meist der Wunsch nach der Wiederherstellung einer verlorenen Einheit, einer idealen Identität, einer vermeintlich besseren, heroischen (vorindustriellen) Vergangenheit verbirgt, stellen Sturlas Fragmente keine Heilung, keine höhere Wahrheit in Aussicht. Vielmehr ziehen sie uns in den Strudel der Orientierungslosigkeit, den Kollaps von Wissen, Mythos und Erinnerung. Dabei strahlen die offenen Brüche, die Sturla hier übereinander türmt, etwas Traumatisches aus. Sie haben eine Intimität an sich, die zugleich ohne große subjektive Geste auszukommt, ja das Menschengemachte gar zu übersteigen scheint.

Laurence Sturla, 'Through Tongue and Soil', 2022, exhibition view, GIANNI MANHATTAN, Wien. Courtesy: the artist and GIANNI MANHATTAN; photograph: kunst-dokumentation.com

Und will man dann doch eine romantische Nostalgie aufschimmern sehen, holt uns die profane Brutalität des Materials zurück auf den Boden des White Cubes. Diese Erfahrung intensiviert sich gerade am Ende der Ausstellung. So mündet die saubere Präsentation in einem schmutzigen „Flussbett“ voller Salzlachen und linkisch dahin geworfener Tonbrocken. Ein Ort, der einerseits die lebendige Potentialität der Entstehung in sich trägt und andererseits einem menschenlosen, verlassenen Schlachtfeld gleicht. Dazu die zarte Fragilität und atmosphärische Schönheit der Salzkristalle. Als stünde man hier vor einer unentdeckten, magischen Welt, die gleichzeitig eben schwarze Plastikfolie und elende Materialklumpen unter Neonlicht ist.

Laurence Sturla, 'Through Tongue and Soil', 2022, exhibition view, GIANNI MANHATTAN, Wien. Courtesy: the artist and GIANNI MANHATTAN; photograph: kunst-dokumentation.com

Laurence Sturla - Through Tongue and Soil
26. November – 19. März 2022


GIANNI MANHATTAN
Wassergasse 14
1030 Wien