In der Schneekugel tut der Aufprall nicht weh
Zu Berührungsängsten der documenta 14 in Kassel
documenta 14, Kassel
17–07–2017
by Sina Brückner-Amin

Maria Eichhorn, Unrechtmäßig aus jüdischem Eigentum erworbene Bücher, 2017, Installationsansicht, Neue Galerie, Kassel, documenta 14, © Maria Eichhorn/VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto: Mathias Völzke

Es ist, als taumele man gegen Glaswände. Und nein, es ist nicht wie im Deutschen Pavillon der aktuellen Venedig Biennale. Der Gang durch die Räume der Neuen Galerie auf der documenta 14 in Kassel verläuft schleppend. In schummrig beleuchteten Ausstellungskabinetten wird die Geschichte einer deutschen Kultur- und Museumspolitik durch das Fernglas der documenta gezeigt, welches sich zwar auch nach Athen, dem ersten – dennoch stets sekundären – Standort der Großausstellung richtet, den Blick jedoch schnell zurück in den „Hauptsitz ihres Geschichtsbewusstseins“ lenkt. Die Eröffnung des Ausstellungsbaus fällt im Jahr 1877 in einen Moment, in dem sich das kaiserliche Deutsche Reich noch nicht lange formiert hat. Die Festigung des Nationalstaates durch ein gemeinsames Staatsoberhaupt und eine gemeinsame Sprache erfolgt auch über eine Form von Leitkultur, die sich bestens in kleinen Tempeln wie einer solchen Galerie zeigen lässt.
Von der klaren Programmatik dieses Vorhabens ist zunächst verdächtig wenig zu merken, während man durch die Ausstellung geht. Einerseits gefüllt mit Besuchermassen, andererseits gefüllt mit zahlreichen kleinformatigen Arbeiten, Zeichnungen, Projektionen, die theoretisch volle Aufmerksamkeit verlangen. Raumfüllende Installationen wie die von Maria Eichhorn eingerichtete Annahmestelle Unrechtmäßige Besitzverhältnisse in Deutschland für Interieurobjekte, derer jüdische Familien enteignet wurden und die man möglicherweise im eigenen Hausstand entdeckt, haben in der Gesamtinszenierung in Kassel wenig Schlagkraft. Bestände aus dem Raubkunstkonvolut des Gurlitt-Nachlass’ oder Zeichnungen von sich in welligen Konturen auflösenden Menschen des weißrussisch-polnischen Künstlers Wladyslaw Strzeminski sind nach den Auftaktwerken im ersten Saal, Versuchung des Hl. Antonius durch einen Klumpen Gold und Gustave Courbets Szene der Bettlersolidarität, mehr erhobene Zeigefinger denn Kunstwerke. Dort gibt ein Mann in Lumpen einem bettelnden Kind etwas in die Hand. Angesichts dieser Geste wird man irgendwie betroffen, aber bleibt merkwürdig versteinert. Es sind diese Zeigefinger, die eine rezeptorische Milchglasscheibe dazwischenschieben, welche schlicht nicht zulässt, ein Band zwischen Werk und betrachtendem Auge zu knüpfen. Soll das das von Adam Szymczyk vielbeschworene „Unlearning“ sein?

Andreas Angelidakis, Polemos, 2017, Sitzmodule aus Vinyl und Schaumstoff, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, documenta 14, Foto: Nils Klinger

Es bleibt missverständlich bis unkommuniziert, vielleicht sind auch die Ohren und Augen taub, nachdem die Sammlung des Athener Museums für Gegenwartskunst im Fridericianum die Besuchenden kontinuierlich anschreit. Von vielen Metern Stacheldraht hin zu der Frage einer mehrteiligen Videoarbeit, was denn die Demokratie sei – falsch, WAS DENN DIE DEMOKRATIE SEI, denn Caps Lock ist hier Dauerzustand – wird eine unendlich anmutende Reihe an Problemen aufgestellt. Die Leinwände von Eugenia Apostolou öffnen sich und zeigen die Wunden hinter den Farbschichten, Joseph Kosuth schlägt im Untertitel der auf den Kopf gedrehten Fotografie Cathexis #39 vor, die Grenzen der Wahrnehmung anzuerkennen, anstatt stetig neue Konstruktionen von Bedeutung zu beschwören. Hinter der Wand steht man sich plötzlich selbst in einem verspiegelten, quaderförmigen Objekt gegenüber: Lucas Samaras’ Mirror Structure - Embrace. Das ist die große Kunst der Analogie. Wer danach nicht mehr kann, darf sich im Raum hinter der Eingangshalle auf den Camouflage-Sitzmöbeln von Andreas Angelidakis ausruhen, Selfies machen, ins Pausenbrot beißen.
Um die Ecke, im postmodernen Glaskasten der documenta Halle, begrüßen aufgestellte Tiermasken des kanadischen Künstlers Beau Dick. Zwischen der Glasfront zur Rechten und den mythischen Holztieren zur Linken vermischt sich der Ausblick auf die Bäume der Karlsaue mit den ethnologischen Gegenständen zur Dschungelkulisse. Eine äußerst gefährliche Szenerie ist das, die ähnlich – und in ihrer Historie eindringlich kritisiert – im Pariser Musée de Quai Branly zu beobachten ist. Ethnologische Gegenstände werden entkontextualisiert, im Display naturalisiert, für die Besuchenden remysifiziert. Über dem Fokus der Ausstellung auf Partituren und Musik, beispielhaft gezeigt mit einer Installation aus Archivobjekten des malischen Musikers Ali Farka Touré, wird das romantisierende Licht angeknipst. Statt die Werke in ihren Formen ernst zu nehmen, müssen sie zusammen um das Feuer tanzen.

Jonas Mekas, Reminiscences of a Journey to Lithuania, 1975, 16-mm film. Courtesy: the artist

Szymczyk will mit Athen die vermeintliche Peripherie Europas und ihre Kunst in die documenta holen. Diese Idee wirkt nach der fünfjährigen Planung der Großausstellung relativ antiquiert. Denn Griechenland steht nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, welche Schwierigkeiten die Europäische Union gerade hat. Das bedeutet nicht, dass über das Aneignen der griechisch-antiken Kultur und ihre übertragenen Imaginarien in Zentraleuropa nicht nachgedacht werden sollte, schließlich basiert fast jedes Museum des 19. Jahrhunderts auf jener antiken Tempelarchitektur. Dennoch, überall um Kassel herum scheint es zu schmoren und zu brennen und die documenta und ihr Team für’s Kuratieren wählen aus, als hätten sie die Einführung des Smartphones verpasst. Referenzen auf etwas Zeitgenössisches sucht man vergebens. Documenta unplugged.
Nun ist Leitkultur genau das, was die documenta nicht möchte, aber all das, was sie mit Hilfe des kuratorischen Programms präsentiert. Die Stichworte „dislocating“ und „decolonizing“ blähen unentwegt einen riesigen Safespace auf, in dem alle präsentierten Kunstwerke einen Platz finden. Das kann schließlich den Grund haben, dass sie dem direkten Blick nicht Stand halten würden, dass der erhobene Zeigefinger mit aller kuratorischer Kraft hochgezogen wird, damit schwächeren Positionen nichts angetan werden kann. Die Gäste der Ausstellung sind aber keine Angreifer. Die Kunst darf und sollte (sie) angreifen. In einem mikroutopischen Raum, in dem alles behütet ist, kann mangels jeglicher Dissonanzen nur nach außen angeklagt und nach innen bestätigt werden. Diskussionskultur wird hier von vorneherein untergraben, Vermittlung durch Eingeweihte tritt an dessen Stelle und soll die fragile Kunst an die Betrachtenden herantragen. Nur schauen, nicht anfassen und bitte auch nicht füttern. Die großen Themen, die sich die documenta vorgenommen hat, werden folglich unberühr- oder verhandelbar. Das ist schlussendlich katastrophal, so funktioniert Demokratie nicht. Pardon, SO FUNKTIONIERT DEMOKRATIE NICHT.
documenta 14
Athen, 8. April - 16. Juli 2017
Kassel, 10. Juni - 17. September 2017
opening hours:
Athen, Di–So 11 - 21 Uhr
Kassel, Täglich 10 - 20 Uhr