Die Gesteinsflüsterin
Eleni Wittbrodt
L187, Offenbach
28–01–2021
by Catharina Szonn

Eleni Wittbrodt, Jiffy, 2021, installation view, L187, Offenbach. Courtesy: the artist and L187, Offenbach; photograph: Esra Klein

Wie kann etwas vermessen werden, das gar nicht erfasst werden kann? Mehr als eine Vermutung über das, was sich im Inneren des Ausstellungsraumes L187 in Offenbach am Main befindet, ereilt die Betrachter*in der raumbezogenen Arbeit Jiffy von Eleni Wittbrodt vorerst nicht. Auf den ersten Blick erscheint die, mit Zeitungspapier verhängte Schaufensterfassade schwer wahrnehmbar als Ausstellungsort. Mimetisch wirkt das äußerliche Erscheinungsbild eines verschlossenen Blicks ins Innere eines Raumes in die unbelebte Umgebung ein. Corona zwingt aktuell alles zum Stillstand – ob hier etwas neu eröffnet wird? Aber da war doch zuvor...?
Irritation stellt sich ein – die verblendete Glasfassade erweckt die Assoziation einer zukünftigen Produktivität hinter vorerst noch verschlossenen Türen. Nähert man sich als Betrachter*in jedoch den von innen mit Zeitungspapier beklebten Glasflächen, erschließt sich die Komplexität der raumbezogenen Arbeit Wittbrodts. Das Zeitungspapier, welches sich wie eine Membran zwischen den Innen- und Außenraum legt, ist eine collageartige Reproduktion eines Zeitungsartikels aus dem Onlinearchiv der Los Angeles Times vom 29. November 1998, in dem ein ins Englische übersetzte Gedicht der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska publiziert wurde. Der ehemals auf dem Bildschirm aufgerufene Onlinezeitungsartikel entspringt in seiner Immaterialität einem „digitalem Fenster“ und wird von Wittbrodt in einer aktualisierten und dahingehend materialisierten Form als sich versperrender Blick auf das Innere eines „analogen Fensters“ übertragen. Das Gedicht Szymborskas steht im Dialog mit Schwarz-Weiß-Fotokopien von Gesteinsfelsen, die geologische Bohrungen aufzeigen, sowie Pistolenschüsse und Messversuche von Belichtungszeiten.

Eleni Wittbrodt, Jiffy, 2021, digital photograph. Courtesy: the artist and L187, Offenbach; photograph: Esra Klein

'Conversation with a Stone', der Titel des Gedichtes, erzeugt in seiner poetischen Lesbarkeit eine immaterielle Klammer zum nachgedruckten Bildmaterial des analogen Zeitungsartikels, der wiederum die physische Verschlossenheit zum Inneren des Raumes in seiner Mehrdeutigkeit verstärkt. Fragmentarisch und zum Teil in sich gespiegelt, fügen sich die unterschiedlichen Gedichtabschnitte der Onlineausgabe mit den wissenschaftlichen Bildbeiträgen in ein loses Zusammenspiel sich wiederholender Inhalte. Die Unübersichtlichkeit im Erfassen der Bild und Textinhalte ist der Gestaltung der einzelnen Zeitungsblätter inhärent und tritt nicht erst in ihrer zufällig wirkenden Anordnung auf der Glasfläche in Erscheinung. Das optische und inhaltliche Ineinandergreifen von Text und Bild in der Art der Anbringung auf der Glasfläche, wirkt dahingehend exponiert. Print ist also nicht tot oder wie es als Fragestellung von den Kurator*innen Vivien Kämpf und Lucy Rose Nixon in Ergänzung zum Ausstellungstext formuliert wird: "Can the past become the present again?“
Die digitale Vergangenheit wird als poetische, analoge Aktualisierung erkennbar und steht im Kontrast zu den Abbildungen physischer Versuchsanordnungen. In Eleni Wittbrodts Arbeit tritt das Dichterisch-Textliche mit dem Wissenschaftlich-Bildlichen in einen Dialog und erscheint als eine Renaturierung vergangener Gegenwarten.

Eleni Wittbrodt, Jiffy, 2021, installation view, L187, Offenbach. Courtesy: the artist and L187, Offenbach; photograph: Esra Klein

Eleni Wittbrodt, Jiffy, 2021, installation view, L187, Offenbach. Courtesy: the artist and L187, Offenbach; photograph: Esra Klein

Würde dies bedeuten, die Probleme von gestern, könnten die Lösungen von morgen sein? Der Blick auf die Gegenwart ist ohne die Vergangenheit nicht denkbar, ein Handeln und Agieren in einem Jetzt wäre ohne eine Reihe vorangegangener Erfahrungen nicht analysierbar. Durch die Vergangenheit also die Zukunft denken und das Digitale wieder ins Materielle überführen? Nur welcher „Ausweg“ zeigt sich Betrachter*innen, wenn der Zugang zur Problematik an der Glasoberfläche der Selbstspiegelung endet? "You may get to know me but you’ll never know me through. My whole surface is turned toward you, all my insides turned away”, antwortet der Stein, wie es auf einem der Zeitungspapiere zu lesen ist. In der Oberfläche sieht sich die Betrachter*in selbst gespiegelt, das Innere des Raumes ist durch die Zeitungsmembran verdeckt, die wiederum Vermutungen zulässt, warum alles so komplex ist. 'Conversation With a Stone' erschließt sich als Metapher und lässt sich als philosophische Fragestellung der Gegenwart deuten. Was wäre die Forschung über den Mittelpunkt der Erde ohne die Tatsache, dass dieser nur bis zu einem Bruchteil an Tiefe, aber nicht vollständig erblickt werden kann? Wie kann das Innere eines Ortes beschrieben werden, in den jedoch nicht hineingeschaut werden kann? "I knock at the stone’s front door. It’s only me, let me come in“. "I don’t have a door,” sagt der Stein am Ende eines Zeitungsblattes und lässt die Interpretation eines wissenschaftlichen Ringens um die Wahrheit der Dinge zu, die visuell nie in Gänze erfassbar sein werden. Fakten werden mittels Daten erfasst. Die Fotokopien der Gesteine mit ihren unzähligen Bohrlöchern wirken wie Beweismaterialien einer Messbarkeitsexpansion in der Endlosschleife. Ist Wissenschaft immer automatisch ein Fortschritt?

Eleni Wittbrodt, Jiffy, 2021, installation view, L187, Offenbach. Courtesy: the artist and L187, Offenbach; photograph: Esra Klein

Der poetische Dialog mit dem Stein als Sinnbild einer reaktionären Verweiger*in, die bei der Vermessung und Optimierung eines Selbst oder der ganzen Welt keine Teilhabe trägt, steht im Kontrast zum Begehren der Wissenschaft die Welt mittels Daten, Vermessungen und Dokumentationen erfahrbar machen zu können. Im Hause Stein gibt es keine Tür und keinen Zutritt. Das Innere bleibt geheim. Nur verspricht der Kern der Sache zu oft die Lösung aller Probleme.
Wie kommen wir aus dem Dilemma wieder heraus? Das Innere des Ausstellungsraumes bleibt bei Wittbrodt ebenso unsichtbar, jedoch findet eine Annäherung des sich gegenüberstehenden Poetischen und Wissenschaftlichen in der Reproduktion des Prints auf der Glasoberfläche statt. Vielleicht muss der Blick auch auf die Flüchtigkeit der Oberfläche gelegt werden? Wissen Sie, wieviel Zeit ein kurzer Moment ist? ‘Jiffy’, so der Titel der Ausstellung, der auf eine bei Messungen, oder als umgangssprachliche Bezeichnung in Verwendung tretende, sehr kurze Zeiteinheit referiert, versinnbildlicht eine Abfolge kurzzeitiger Überforderungen, ausgelöst durch die Vielzahl der Zeitungsseiten. Angenommen die Überforderung beginnt bereits mit der Betrachtung der Oberfläche, wie soll dann eine tiefergreifende Vermittlung über das Verstehen verfestigter und komplexer Strukturen stattfinden? “You shall not enter,” kommandiert der Stein. “You lack the sense of taking part.“ Vielleicht hat der Stein damit auch gar nicht so unrecht, dass solange wir uns an den Versprechungen der Durchlässigkeit der hochglänzenden Oberflächen festhalten, uns der tiefer Sinn und das Verstehen komplexer Zusammenhänge zunehmend schwerer erscheinen wird. Das digitale Fenster ist vielleicht am Ende doch undurchsichtiger, auch wenn es uns alltäglich erscheint, als der Versuch zum Mittelpunkt der Erde zu gelangen.

Eleni Wittbrodt, Jiffy (detail), 2021, found image, L187, Offenbach. Courtesy: the artist and L187, Offenbach; photograph: Esra Klein

Eleni Wittbrodt – Jiffy
15. – 29. Januar 2021
L187
Ludwigstraße 187
63067 Offenbach am Main
Die Ausstellung ist von außen jederzeit zu besichtigen.