Keine leichte Sache. Lin May Saeed in der GAMeC
26–06–2024
by Lorenzo Graf

Lin May Saeed, The Liberation of Animals from their Cages III, 2008. Image courtesy of the Estate of Lin May Saeed and Jacky Strenz, Frankfurt/Main. Photography: Jens Heine


Entschlossen marschieren die Tierskulpturen auf den Ausgang des Ausstellungssaals zu. Sie treten stolz auf ihren Versandboxen an wie auf Käfigen, aus denen sie erfolgreich ausgebüxt sind. Doch dieser eindeutige Hang zur Bewegung enthält eine paradoxe Ader. Nicht nur weil es sich offensichtlich um erstarrte Lebewesen handelt, die durch Zenons Bewegungsparadoxon in Skulpturen verhext worden sind, wie Saeed in ihrer Fabel erläutert. Sondern auch, weil der Kunststoff, aus dem diese Styropor-Figuren bestehen, typischerweise als Verpackungsmaterial eingesetzt wird: die Flucht der Figuren von der Box wirkt unmöglich, da sie selbst Bestandteil der Box sind. Ihre Materialität sucht sie ständig heim.

Durch diesen Aspekt kommt eine der wesentlichen Spannungen in Lin May Saeeds Werk zum Vorschein. Die deutsch-irakische Künstlerin traute sich immer wieder an die Darstellung nichtmenschlicher Tiere heran. In Skulpturen, Reliefs und Zeichnungen zeigen sie sich alleine, in Gruppenkonstellationen oder in vertrauter Nähe menschlicher Figuren. Die erst niedlich anmutenden Tierchen wirken bei näherer Betrachtung rau, beinahe grotesk. Das liegt sowohl an dem Low-Res-Effekt des Polystyrols, dessen grobe Körnung an digitale Pixel erinnert, als auch an Saeeds Verweigerung, ihre Darstellungen als adäquate Repräsentationen des Nichtmenschlichen begreifbar zu machen. Denn eine solche vereinnahmende Geste wäre bereits Domestizierung.

Lin May Saeed, Installation view, GAMeC, Bergamo, 2024. Image courtesy of GAMeC – Galleria d'Arte Moderna e Contemporanea di Bergamo. Photography: Antonio Maniscalco


Lorenzo Giusti, Direktor der GAMeC in Bergamo, widmet sich dem Schaffen dieser vor Kurzem verstorbenen Künstlerin und wählt ihr Werk als kuratorischen Angel- und Anfangspunkt des zweijährigen Programms Thinking Like a Mountain aus. Parallel zu Saeeds Einzelschau, als Teil des selben Programms, zeigt er auch die Neuproduktionen von Sonia Boyce und Chiara Gambirasio jeweils in Bergamos Palazzo della Ragione und in den Gemeinden Castione della Presolana und Dalmine. Aber Saeeds zentrale Positionierung innerhalb der GAMeC unterstreicht ihre konzeptuelle Gewichtung im Projekt. Dazu kommt, dass Giusti Saeeds Einzelausstellung zweiteilig gestaltet hat und eine weitere Darbietung ihrer Arbeiten in Ortisei im Rahmen der neunten Biennale Gherdëina kuratiert hat.

Thinking Like a Mountain ist dafür gedacht, den Umzug der GAMeC in neue Räumlichkeiten zu begleiten. Deshalb fällt in diesem Programm ein bestimmter Hang zur Wanderschaft auf—wie Gambirasios abgelegenen Installationen veranschaulichen. Aber auch auf einer konzeptuellen Ebene lädt Thinking Like a Mountain auf eine Bewegung ein: auf einen Schritt zurück. Ausgehend von der titelgebenden Erzählung des U.S.-amerikanischen Forstwissenschaftlers Aldo Leopold (1887–1948), wird im Ankündigungstext das Verlangen angesprochen, „einen anderen Blickwinkel—aus einer gewissen Distanz—auf die Gesellschaft und unser Handeln einzunehmen, um eine Faszination für die Erde zu fördern […]“. Es handelt sich um eine bekannte rhetorische Geste, die verspricht, durch einen distanzierten Blick die reellen Zusammenhänge zu durchdringen und somit ihren positionellen Wahrheitsanspruch zu tarnen. Doch kann überhaupt dieser „Schritt zurück“ gemacht werden?

Lin May Saeed, Installation view, GAMeC – Bergamo, 2024. Image courtesy of GAMeC – Galleria d'Arte Moderna e Contemporanea di Bergamo. Photography: Antonio Maniscalco


Giustis Kuration eignet sich die Widersprüchlichkeit des „Schritt zurück“ an, anstatt in seine Fallen zu treten. Saeeds Kunst ist dabei eine wesentliche Hilfe, indem sie Binaritäten ständig spielerisch aufbricht. So begibt sich auch ihr Werk auf Reisen, ohne tatsächlich sonderlich viel das Atelier zu verlassen. Das spiegelt sich in den nahöstlichen Referenzen wider, aus denen sich ihre Kompositionen, Motive und Titel speisen. Beispielsweise enthält Mureen / Lion School (2016) bildliche Hinweise auf die mesopotamische Uruk Vase und ihre antike Reliefkunst. Während die Titel einiger Skulpturen und Reliefs den arabischen Bezeichnungen der dargestellten Tiere entnommen sind—wie in Thaealab (2017)—, kokettiert Saeeds visuelle Sprache mit der irakischen Moderne (unter anderem mit den Formen von Dia Azzawi). Trotz dieser vielen Hinweise war Saeed selbst nur ein einziges Mal in Irak gewesen.

Allerdings sind diese Berührungspunkte mit dem Kulturraum ihres irakischen Vaters keine Selbstexotisierung. Sie spiegeln vielmehr die komplexe Dynamik zwischen dem Integrationsdruck, dem Saeeds Vater in Deutschland der 60er vermutlich  ausgesetzt war (er sprach nie Arabisch zuhause), und ihre eigenen Erfahrungen und Sehnsüchte als migrantisierte Person der zweiten Generation.

Lin May Saeed, Mureen, 2016. Image courtesy of The New Institute, Hamburg. Photography: Serge Hasenböhler


Die Leichtigkeit und Fragilität von Saeeds Styroporkunst steht immer im Verhältnis zur Schwere und Ernsthaftigkeit. Auf Fotos sehen ihre Arbeiten wie aus Beton und Spachtelmasse gemacht aus, während ich vor ihnen stehend dachte, sie wegpusten zu können. Auch bei den politischen Fragen um Tierethik, die den Grundton ihres Werks angeben, verzichtet die Künstlerin nicht auf Ironie und Sarkasmus. Lin May Saeed hat diesen spielerischen Brückenschlag nach Norditalien mitgenommen und erweitert damit den „passo indietro“ von GAMeC.


[1] „Zenon rief alle Menschen und Tiere zu sich und sprach: […] Wegen der Nichtexistenz von Bewegung werdet Ihr Alle zu Skulpturen.“, in: Lin May Saeed, Fables (Mousse Publishing: Bergamo, 2024), p. 41.




Lin May Saeed

17/05 – 22/09/2024

As part of the Thinking Like a Mountain project, and in connection with the ninth edition of the Biennale Gherdëina curated by Lorenzo Giusti.


Sonia Boyce, Mercedes Azpilicueta, Chiara Gambirasio, Lin May Saeed, Studio Ossidiana and the communities of Bergamo, Brembate, Castione della Presolana, and Dalmine are the first protagonists in the biennial program Thinking Like a Mountain.


GAMeC – Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea di Bergamo

Via San Tomaso, 53

24121 Bergamo

Italy