Wer hat Zugang zur universitären Wissensproduktion und wie können hierarchische Strukturen in Institutionen aufgebrochen werden? Universitäten setzen die Maßstäbe einer vermeintlich rationalen Wissenschaftlichkeit fest, die einen allgemeinen Wahrheitsanspruch erhebt. Wissens- und Verständnisformen, die nicht auf diesen Maßstäben beruhen, wurden und werden aus den Diskursen ausgeschlossen oder herabgesetzt. Auch in der physischen Bausubstanz der Universität manifestieren sich Machtverhältnisse und Interessen, die den Zugang zum und das Verhalten im Raum lenken. Das Künstler*innenkollektiv Raqs Media Collective eröffnet mit seinen Arbeiten immer wieder einen kritischen Dialog mit ebendiesen institutionellen Strukturen. Es spielt mit realen und empfundenen Trennlinien im öffentlichen Raum und fragt, wie sich Orte von ihrem hierarchischen Charakter und ihrer unflexiblen Beständigkeit lösen können. Raqs Media Collectives Arbeit All, Humans, die als Kunst am Bau für das neue Gebäude der Sprach- und Kulturwissenschaften auf dem Westend Campus der Goethe Universität in Frankfurt am Main konzipiert wurde, regt eine Selbstreflexion des akademischen Raums an.
An drei unterschiedlichen Orten – in der Nähe der Schließfächer, vor dem Hörsaal und in der Bibliothek – gliedern sich die Installationen an die Architektur an. Quadratische LED-Module sind an Stahlgerüsten befestigt, über denen sich ein LED-Mesh in der Form eines Baldachins wölbt. Auf den fragmentarisch angeordneten Modulen überlagern sich Videos, deren Inhalte sich erst bei längerer Betrachtung offenbaren. Linien fügen sich zu Skizzen zusammen oder Details werden erst beim langsamen Herauszoomen erkennbar, beispielsweise ein Schriftzeichen der westafrikanischen Sprache Vai. Diese Schriftzeichen ergeben den ersten Satz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
„ꕉꕜꕮ ꔔꘋ ꖸ ꔰ ꗋꘋ ꕮꕨ ꔔꘋ ꖸ ꕎ ꕉꖸꕊ ꕴꖃ ꕃꔤꘂ ꗱ, ꕉꖷ ꗪꗡ ꔻꔤ ꗏꗒꗡ ꕎ ꗪ ꕉꖸꕊ ꖏꕎ. ꕉꕡ ꖏ ꗳꕮꕊ ꗏ ꕪ ꗓ ꕉꖷ ꕉꖸ ꕘꕞ ꗪ. ꖏꖷ ꕉꖸꔧ ꖏ ꖸ ꕚꕌꘂ ꗷꔤ ꕞ ꘃꖷ ꘉꔧ ꗠꖻ ꕞ ꖴꘋ ꔳꕩ ꕉꖸ ꗳ.” [„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.”]
Von dem formbaren LED-Mesh geht ein sanftes und buntes Strahlen aus. Darauf erscheinen immer wieder neue, florale Muster, deren Lichtintensität und Farben changieren.
Damit ruft All, Humans im funktionalen Institutsgebäude Störmomente hervor: Die sperrigen LED-Videoskulpturen unterbrechen die Wege der Gebäudenutzer*innen zwischen Hörsaal, Mensa und Bibliothek. Die Werkgruppe verknüpft verschiedene Räume des Gebäudes miteinander, die unterschiedliche Funktionen haben. Bewusst oder unbewusst können uns die Installationen mehrmals begegnen, Erinnerungen auslösen und dem Raum einen Wiedererkennungswert verleihen. Die verspielten und farbintensiven Motive der Installationen widersetzen sich der Rationalität des Universitätsgebäudes, welches durch hohe Decken, weite Fluchten und einen hellen, glatten Boden gekennzeichnet ist. Mit diesem Kontrast erinnern sie daran, dass die räumliche Gestaltung des Gebäudes den Regeln der akademischen Institution unterliegt. Was sich an diesem Ort befindet, ist nicht zufällig platziert, sondern auf einen funktionierenden und reibungslosen Universitätsbetrieb ausgerichtet.
Dazu gehören die Schließfächer, die darauf ausgerichtet sind, dass wir persönliche Gegenstände wegsperren. Losgelöst von dieser Funktionalität, lenkt das LED-Mesh den Blick nach oben und schafft einen starken Kontrast zur weißen, kahlen Bausubstanz. Der Durchgang vor dem Hörsaal ist ein Nicht-Ort mit der einzigen Funktion des ungehinderten und zügigen Vorbeigehens. All, Humans befindet sich inmitten dieses Wegs und unterbricht alltägliche Routen im Universitätsgebäude. Unweit der Installationen stehen Bänke und Tische: grau, ohne Lehne und ohne Sitzkissen. Sie eignen sich zum kurzen, effizienten Zwischenstopp statt zum gemütlichen Ausruhen. Auch die Gestaltung der Bibliothek legt den Fokus auf Geradlinigkeit, Stille und die Vermeidung von Ablenkung. Dem setzt die Installation Licht und Farbe sowie Formen und Linien entgegen, die sich blinkend überlagern. Wie Epiphyten sitzen die LED-Konstruktionen auf den Säulen und Wänden auf und verändern durch ihr warmes und flimmerndes Leuchten die kühle Raumatmosphäre.
Nicht nur die Begegnung mit dem universitären Raum kann neu gedacht werden, sondern auch die zwischen Menschen: Der schützende Baldachin soll einen Versammlungsort schaffen. Seine flimmernden geometrischen Muster greifen Motive des bunt gemusterten Baumwollstoffs auf, der für die südasiatische Zeltform „shāmiyāna“ verwendet wird. Diese wurde Ende 2019 während der Protestbewegungen gegen ein neues Staatsbürger*innenschaftsgesetz in Delhi als Ort des Zusammenkommens genutzt. Geschützt unter den Zeltdächern schlossen sich Menschen zusammen und begannen miteinander zu kochen, gemeinsam zu essen und zu sprechen. Besonders die Installation vor dem Hörsaal nimmt die Funktion eines Versammlungsortes ein, denn das Dach bietet genug Platz, um sich darunter zu bewegen und zusammenzufinden. Für Raqs Media Collective soll Kunst im öffentlichen Raum Zwischenmenschlichkeit und Solidarität fördern. Für die Künstler*innen wird ein Ort erst lebendig, wenn dieser nicht individuell, sondern im Kollektiv gestaltet wird.
Räume, Ideen, Wissen – all das ist variabel und muss ständig neu hinterfragt werden. Die Videos auf den LED-Modulen zeigen mit den Vai-Schriftzeichen eine Sprache, die im universitären Alltag nicht vorkommt. Indem die meisten Betrachter*innen der Arbeit mit dem eigenen Nicht-Wissen konfrontiert werden, soll ein Bewusstsein für die Grenzen und ausschließenden Mechanismen der Universität geschaffen werden: Welche Sprachen werden an der Universität gelehrt und welches Wissen vermittelt? Was wird für die Teilnahme am Lehrbetrieb vorausgesetzt und wer entscheidet das?
Durch den eher ungewöhnlichen Einsatz von Bewegtbild am Bau verkörpert All, Humans die sich verändernden Dynamiken der Wissensproduktion, die das Kollektiv mit der Werkgruppe an die Universität bringt. Mit der Wahl des Materials der Licht-Emittierenden-Dioden (LED) verweist Raqs Media Collective außerdem auf die Vielstimmigkeit von Wissen. Die Motive setzen sich aus einer Vielzahl einzelner Dioden zusammen – je nachdem, welche von ihnen mit welcher Intensität und Farbe aufleuchten, treten unterschiedliche Bilder in Erscheinung. Ebenso werden unterschiedliche Stimmen in den wissenschaftlichen Diskurs einbezogen oder ausgeschlossen und die Vorstellung dessen, was als wissenschaftlich gilt, verändert. Abhängig davon, wie Macht verteilt ist, wird auch Wissen hierarchisch produziert und weitergegeben. Die nicht leuchtenden LEDs spiegeln formal wider, dass das universitäre Wissen nur eine unvollständige Interpretation der Welt ist.
Auch die Varianz der Pixeldichte auf den einzelnen Modulen weist auf die Subjektivität von Wissen hin und liefert unterschiedliche Auflösungen. Je nachdem, aus welchem Abstand die Betrachter*innen All, Humans begegnen, erscheinen andere Ausschnitte der Videos scharf oder unscharf. In ähnlicher Weise kann auch Wissen als situiert verstanden werden: Aus unterschiedlichen Perspektiven treten andere Facetten vor oder zurück.
Um gemeinsam über diese Grenzen der Institution und ihre Wissenspraxis nachzudenken, soll unter dem Baldachin ein subversiver Raum eröffnet werden. Dieser soll keiner hierarchisierten Struktur unterworfen sein, indem Dozierende den Studierenden Wissen vermitteln, wie es in den Lehrräumen der Universität üblich ist. Die Studierenden sollen dazu ermutigt werden, sich auf Augenhöhe zu begegnen und sich den universitären Raum kritisch anzueignen. Die Dynamik zwischen Wissenden und Nicht-Wissenden soll damit aufgebrochen werden. Dieses Potenzial wird durch die Öffentlichkeit der Arbeit intensiviert: Da das SKW-Gebäude der Goethe-Universität öffentlich zugänglich ist, kann der Raum unter dem Baldachin theoretisch von allen - auch Nicht-Studierenden - genutzt werden. Der sonst elitäre und ausschließende Charakter der Universität soll durch Kunst im öffentlichen Raum aufgebrochen werden und ein breites Publikum anziehen. Die Produktion von Wissen soll damit „als eine Tätigkeit verstanden werden, an der möglichst viele barrierefrei teilnehmen können.”[1]
In der Arbeit wird an mehreren Stellen ein Fokus auf alle Menschen gerichtet – so auch im Titel oder durch die Implementierung des ersten Artikels der Menschenrechte. All, Humans bleibt jedoch in einen akademischen, exklusiven Kontext eingebettet, dessen Strukturen eine materielle als auch immaterielle Barriere darstellen. Möglicherweise verweist der Titel der Arbeit bereits auf die bestehende Exklusivität. Das Komma trennt die beiden Wörter „all“ und „humans“ voneinander. Sind mit „alle“ wirklich alle gemeint?
All, Humans befindet sich im Gegensatz zum Großteil der sogenannten Kunst am Bau im Innenraum des Gebäudes. Nur die Installation vor der Bibliothek ist von außen durch die Fenster sichtbar. Um sich umfänglich mit der Werkgruppe auseinandersetzen zu können, müssen die Rezipient*innen in das Gebäude eintreten. Durch die Verortung in einem universitären Gebäude spricht die Arbeit in erster Linie Studierende, Lehrende, sowie das Personal der Cafeteria, der Bibliothek oder diverser Serviceeinrichtungen an. Für Besucher*innen, die vordergründig die Arbeit sehen möchten, besteht eine Schwelle, die überwunden werden muss. Sie müssen aktiv in den universitären Raum eintreten, der den Nutzer*innen der Universität vorbehalten ist. Sobald die Besucher*innen das Gebäude betreten, werden dieser Raum und seine Funktionalität jedoch aufgebrochen und ermöglichen eine andere Art der Öffentlichkeit, die sich nicht nur auf den universitären Alltag beschränkt.
Um die Inhalte der Werke möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, bedarf es nicht nur einer räumlichen Überwindung, sondern auch einer zusätzlichen Vermittlung. Doch wie kann dauerhaft installierte Kunst am Bau so vermittelt werden, dass sie möglichst viele Menschen anspricht? Vor allem, wenn es sich um ein Werk handelt, dessen Inhalte sich nicht unmittelbar erschließen.
Geht die Architektur auf die Bedürfnisse der Gebäudenutzer*innen ein? Im Institutsgebäude gibt es beispielsweise kaum Orte, die von den Studierenden selbst gestaltet wurden. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Menschen diesen Raum aneignen werden und ob die Arbeit All, Humans dazu beitragen kann. Ohne tatsächliche Versammlungen unter den Baldachinen bleibt die Arbeit eine Utopie, die die hierarchisierten Strukturen der Universität nicht aufbricht. Solche Diskussionsräume sind an der Universität definitiv notwendig, doch können sie nicht künstlich geschaffen werden. Solange dort kein Raum durch das Zusammentreffen und den Austausch von Menschen entsteht, weist All, Humans auf diese Leerstelle hin.
[1] Waibel, Tom u.a.: Debatte. Zur Praxis des ‚epistemischen Ungehorsams‘, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft, 8 (2014), S. 99 - 114, hier S. 103.