Ich male oftmals Höhlen, denn sie stürzen mich in die Erde herab, dunkel aber umgeben von einem Nimbus des Lichts, und ich, das Blut der Natur – extravagante, gefährlich Höhlen, Talisman der Erde, in denen Stalaktiten, Fossilien und Felsen zusammenkommen, wo die Tiere, verrückt vor Verlangen, Unterschlupf suchen. Diese Höhlen sind meine Hölle. Die ewig träumende Höhle mit ihren Nebeln, ihrem Erinnern, ihrem Verlangen? Gespenstisch, gespenstisch, esoterisch, grünlich durch den Schleim der Zeit.
– Clarice Lispector, Aqua Viva, 1973
Sie betrat den Raum, ohne nach Erlaubnis zu fragen; sie hatte es nicht nötig. Sie war da und gleichzeitig war sie es nicht, sie strahlte eine Schwere aus, die aus der gleichzeitigen Wahrnehmung beider/aller Welten resultierte. „Unerforscht?“ fragte sie, und schaute mir dabei direkt in die Augen. Ich folgte ihr in ein dunkleres Zimmer. Sie blieb auf der anderen Seite des Betts und hielt dabei ein Gefäß, das aussah wie ein Baumstamm. Es enthielt eine Nachricht. Als sie das klare Wasser ausschüttete, machte es ein viel lauteres Geräusch als sein Volumen hätte erraten lassen. Sie schüttete das Wasser in einen weißen Servierteller auf dem Bett. Es wurde nichts serviert, aber der Teller wurde fast zu einem Portal – ein Zeitportal aus Wasser, oder Wasser, das ein Portal darstellte, oder die Zeit hatte das Wasser dazu gebracht, ein Portal zu eröffnen. Es war ein großzügiges Geschenk des Dirillo Flusses: über die Jahre hinweg war das Wasser durch den Zugang in den Fluss gelaufen, Tränen rannten über ihr Haar in den Fluss. Die Zeit war fließend, die Zeit ist fließend –
Das Portal war fließend, mit langen Tentakeln, die ihre Augen bedeckten, wenn sie ihren Sehsinn nicht mehr brauchte. Das alles erinnerte mich an die seltsamen Wurmportale aus dem Film Donnie Darko. Ich versuchte, ruhig zu bleiben und dennoch offen, versuchte die Erinnerungen fernzuhalten, mir die Erinnerungen an die anderen vom Leib zu halten.
Sie fragte unverhohlen, suchte keine Antworten. Hekate führte die Umherschweifenden. Es war ein weiterer Versuch, ein Experiment, ein Versuch, die Aufstellung zu erinnern: was sollte an welcher Stelle sein und in welcher Reihenfolge musste es platziert werden, um neue Portale zu schaffen. Dieses intuitive Wissen tauchte den Raum in ein Gefühl der Erleichterung, ein Gefühl, dass die Dinge geklärt waren. Das Zimmer, das sich Raum nennt, wo man weiß, dass man durch die Wiederholung einer bestimmten Abfolge einen Flow begründen kann. Dass man ihn aufblühen lassen kann.
Ein Wal bewegte sich langsam, großzügig breitete er seinen Charme in den kalten Gewässern aus während er das Höllentor offenhielt. Körper krochen lustvoll ineinander, Wörter wurden wieder und wieder wiederholt, was neue Arten alten Geschichten zu erzählen hervorbrachte. Sie fand Gefallen daran, die Türen offen zu halten, aber gleichzeitig frustrierte sie der Widerstand, den sie leisteten. Der Moment war fast schon durchdrungen von ritualistischer schamanischer Tradition, ich wusste, dass ich irgendwann darauf einlassen müssen würde. Sie begann, Geschichten über viele Frauen zu erzählen, über außergewöhnliche Lebewesen, seltsame Unterwasserkreaturen und ihre Rituale. Sie erwähnte mit keinem Wort, wann oder ob ich sie jemals zu Gesicht bekommen würde, oder in welcher Reihenfolge ich die Objekte würde anordnen müssen, um zu ihren Portalen zu gelangen. Sie zeigte mir nur, dass man fragen konnte, hinterfragen – nicht nur danach, was sich hinter der Maske verbarg, sondern auch, wie man die Oberfläche umformen könnte. Versuch einfach, hineinzubeißen, sie zu schmecken, sie zu formen, sie zu verstehen.
Es war ein schwieriger Zeitpunkt, um daran zu denken, mich zu bedecken; die transparenten Vorhänge wallten oder bewegten sich fast als wären sie die unerwünschten Geister des Hauses. Aber dennoch waren sie es, die tatsächlich das Hauswesen ausmachten, die die Erinnerung an Ort und Stelle hielten, sie versteckten sich nicht hinter Masken sondern flatterten durch die Luft, und so riefen sie Lücken hervor, durch die die verschlossenen oder versteckten Teile erscheinen konnten. Es waren Glocken ohne Gläser, das war das Letzte, an das sie sich vom Wasser erinnern konnte. Nasses Haar in einem gigantischen Mund und läutende Glocken, die die Nacht auf das Zimmer vorbereiteten, darauf wie es sein würde, wenn sie gegangen war. In die Maske hineinschneiden, ihr einen Mund geben, aber Glocken hineinzutun statt Zähnen oder Geräuschen – es musste ein Ruf nach der Zeit sein, in der man nur durch ein Tuch gehört werden kann, der Klang gedämpft durch den Stoff, flüsterte ich in den leeren Raum hinein. Augenblicke, die sich wie Jahre anfühlten, huschten vorbei, sie ging, und ich stand alleine vor den nassen Tüchern. Die Angst wich dem Pflichtgefühl. Ich hörte Stimmen aus der Zeit vor der Sprache, bis auch sie das Zimmer seiner Leere überließen. Glocken in einer Maske, Masken voller Haare, Tränenfänger, die darauf warteten, mit Wasser gefüllt zu werden, auf Spiegeln, die die Zeit krümmen werden um Andere zu finden – es war ein leibliches Ritual, in dem wir nur Fragen stellten und es austesteten, und immer und immer wieder darin scheiterten.
Tina Kohlmann – Paradoxical Passages 15. Januar – 20. Februar 2021
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