Zukunft zwischen Plüsch und Brause
Tip of the Tongue
The Shophouse 1527, Bangkok
24–01–2023
Exhibition Note by Ellen Wagner

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Körperlich eingesackt, aber im Kopf voll da, hängt der lila Wurm tiefenentspannt über dem Barhocker. Es ist früh am Freitagabend, doch er hat sich bereits drei Limos genehmigt. Irgendwer hat ihm, unbemerkt, ein Video untergeschoben, das nun vor seinem inneren Auge – der Wurm hat selbstverständlich kein Sehorgan – flimmert. Obgleich ohne äußere Sinneswahrnehmung, wendet sich der Wurm wie hypnotisiert dem Bildschirm zu. Die subversive Normalität des Untergrunds gewohnt, beginnt er langsam, über das Sitzen und Schweben, das Festsitzen im Hier und Jetzt, das Abheben über den Abgrund des Ungewissen zu meditieren. Vielleicht mag ein Wurm nicht die primäre Zielgruppe eines Roadmovies sein. Ein experimentelles Publikum sehr wohl, eines, das fühlen muss, wo es nicht sehen und nicht hören kann.

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Die Arbeit From Breakfast to Breakup (trailer) ist auf kompakte Zehnminuten-Kürze getrimmt und doch viel zu lang für einen Trailer, der sie vorgibt zu sein. Auf wiederholten Spannungskurven ins Nichts manövrierend, erzählt sie, wie ein junges Paar (Daniela Kneip Velescu und Lars Karl Becker) mit dem PKW aufbricht, um diverse Raststätten und (post-)sozialistische Monumente auf dem Weg in Kneip Velescus Geburtsland Rumänien zu erkunden. Der Sound wummert ahnungsvoll durch die ausbleibende Handlung, die sich doch so dynamisch ankündigt, dass man gerne mitfahren würde, in den nächsten Tunnel hinein, durch ihn, durch bloß etwas hindurch, egal was.

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Im Video, so Lars Karl Becker und Daniela Kneip Velescu, geht es um die Frage, was Europa – insbesondere Osteuropa – aus Sicht einer (West-)Europäer:in eigentlich sein soll. Wenn uns selbst ein Verständnis dafür fehlt, in welchen Nachbarschaften wir uns befinden, wie können wir uns dann jetzt und künftig überhaupt in der Welt bewegen? Die Dramaturgie wird zur Abfolge von Gebäuden, die von den Protagonist:innen betreten oder verlassen werden; zum Aufblitzen (un-)möglicher Räume, die nur in der Erinnerung und Imagination existieren.

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Genau dieses Aufblitzen gibt das Leitmotiv der Ausstellung von Daniela Kneip Velescu, Lars Karl Becker und Unchalee Anantawat. Ein lichtdurchflutetes Obergeschoss, bespielt mit minimalistisch anmutenden Skulpturen aus Glas, Papier und PVC; darüber zermalmt ein hechelnder Ventilator die staubige Hitze. Im Erdgeschoss klimatisierter Cafébetrieb, das gedimmte Licht taucht alles in zarte Schatten. „Tip of the Tongue“, die Spitze der Zunge, ist Spielort für all das, was kurz bevorsteht und doch für den Moment unerreichbar ist: Auf der Zungenspitze liegt uns, was wir, direkt vor uns, doch nicht greifen, schmecken, riechen können. Etwas, das wir zu wollen, bereits zu berühren scheinen, ohne es klar benennen zu können. Gibt es eine leichtfüßigere Umschreibung für eine Auseinandersetzung mit der Melancholie des Utopischen als diese, die zerprickelt wie Brausepulver am bereits wunden, unersättlichen Gaumen?

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Bitter, sauer, salzig, süß schmeckt vieles, was wir uns wünschen und doch nicht bekommen; was uns vorgesetzt wird, ohne dass wir das Gericht bestellt hätten. Daniela Kneip Velescus Objekte Taste buds (sweet, salty, sour and bitter) setzen ihre Leere, die zugleich Geräumigkeit ist, in Szene. Die Pillenkapseln stehen auf Sockeln aus Pappmaché, geformt durch das Platzen eines Modellierballons in ihrem Innern – einer langen dünnen Wurst, wie sie auf Kinderpartys zu Hunden oder Schwänen geknotet wird. Die kollabierte Form wird zur Stütze einer anderen, um diese gerade so noch in Balance zu halten.

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Über den leeren Pillen grinsen Clownsgesichter (Lars Karl Becker & Daniela Kneip Velescu Circle of Friends, 2022). In behandschuhten Händen halten sie rote Nasen, die sie taschenspielerartig präsentieren und verschwinden lassen. Die Figuren erinnern an anonyme Werbespaßmacher. Allerdings scheint ihnen ihr aussagekräftiges Markenprodukt abhanden gekommen zu sein – weshalb sie nun munter kostümierte Sinnesorgane wie Bonbons anzupreisen scheinen.

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Der stummen Darbietung im Erdgeschoss zwei Videos gegenüber, in denen ziemlich viel geredet wird. Unter der Treppe empfängt Lars Karls Beckers Good news, comrades! (2021) mit einer doppelten Fortschrittserzählung: Die Ausdehnung des Universums zu immer größeren eisigen Weiten, in denen die Erde als Eintagsfliege keine Rolle spielt – geschweige denn das Streben der Menschen, die auf ihr leben –, wird mit Bildern aus Pasolinis Avantgardefilm Teorema von 1968 durchsetzt. Gegenübergestellt wird diesen Sequenzeneine Soundspur inklusive Geisterbahnfahrt, in der ein Mädchen vom Alltag in der Baumwollfabrik zu Zeiten der frühen Industrialisierung erzählt. Die überfordernde Gleichzeitigkeit der Erzählstränge einer physikalischen bzw. sozialen Entwicklung – weniger durch Konkurrenz als durch Gleichgültigkeit füreinander gekennzeichnet – zwingt geradezu, sich zu entscheiden: Welcher Spur folgen wir, mit Augen und mit Ohren? An welche Geschichte glauben wir, welche ist letztlich für unser Leben relevant?

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Die Arbeiten der Ausstellung kultivieren eine Art statisches Verharren oder wechselseitiges Blockieren widerstrebender Dynamiken – selbst im demonstrativen Verweis auf den Aufbruch, das Ankündigen einer (Aus-)Wirkung, eines Abenteuers. Was bedeutet dies dramaturgisch für das übergreifende Thema zwischen Fülle und Leere, Versprechen und Enttäuschung? Was kann dieser Zwischenraum noch bieten? Hat Frustration wirklich eine zweite Ebene, jenseits neoliberaler Durchhalteparolen?

Besonders haptisch wird die Ambivalenz zwischen dem Sehnen nach und Konsumieren von Zukünften in den Arbeiten von Unchalee Anantawat, die eine Soft Sculpture – den Wurm vor dem Bildschirm zu Beginn des Rundgangs – und eine Airbrush-Malerei präsentiert. Die luftig-knautschig-körperlichen Stofflichkeiten erzeugen verschiedene Unschärfegrade. Ein Atompilz über der Blumenwiese mit überdimensioniertem Schmetterling scheint, mit sinnbildlich ausreichender Kurzsichtigkeit betrachtet, wenig problematisch – What a beautiful day! (2022), wenn alles glitzert, prickelt für den Moment. Am Morgen danach folgt der Kater. Anantawats Plüschwurm mit dem Namen lonely Tylenol (2022) scheint das ihm titelgebende Schmerzmittel bereits zu einem anhaltenden Gefühl der Linderung verstoffwechselt zu haben.

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Auch ich habe die ergonomische Haltung aufgegeben, krieche in den Bildschirm hinein, klicke mich durch die Installation Views aus dem Shophouse 1527. Die Ausstellung wurde mir per Download-Link auf den Rechner geliefert. Ohne räumliche Orientierung grabe ich mich durch die Etagen, verwechsle ständig, was oben und was unten ist. Vielleicht liegt es am übermäßigen Limokonsum. Vielleicht auch daran, dass ich visuell eingearbeitet, überarbeitet bin.

Vielleicht erstreckt sich der Zwischenraum, der die Utopien und Dystopien vom Jetzt trennt und sie zugleich mit uns verbindet, in der Spanne zwischen unserer Sprachlosigkeit und dem mühevollen Versuch, zu kommunizieren, sich verständlich zu machen, aufmerksam, berührbar zu sein. Die Ausstellung „Tip of the Tongue“ weist in diese Richtung, wenn sie einerseits slapstick-stummes Fröhlichsein und glasklare Wirkungslosigkeit zeigt, andererseits in ernster Komik und Hartnäckigkeit betriebene Versuche präsentiert, bestimmte Räume, Umräume, zu verstehen und zu beschreiben. Das Roadmovie ist geprägt von gebrochenen Sprachanläufen auf Rumänisch, um den liegengebliebenen Wagen wieder ins Rollen zu bringen; der Plüschwurm kann nichts sehen und hören und ist doch so vor dem Bildschirm positioniert, dass er als Verkörperung einer Anstrengung lesbar wird, sich an ein ihm Unverständliches heranzutasten.

Tip of the Tongue, 2022. Installation view, The Shophouse 1527, Bangkok. Copyright and courtesy of the artists and Napat Pattrayanond.


Vermutlich braucht es die Reflexion und das Experiment über leere Gesten, um sich den eigenen Standort, Standpunkt im ewigen Sich-Annähern an geographische oder temporale Ziele und Anliegen bewusst zu machen – sich bewusster zu machen, welche Distanzen wir überbrücken, wenn wir unterschiedliche Sprachen mit der Stimme und dem Körper sprechen. „Tip of the Tongue“ ist eine Ausstellung über das Anlaufnehmen, mit den Beinen und im Kopf. Nicht immer sehen wir jedes Detail klar, schmecken jede Nuance aus dem improvisiert Zubereiteten heraus, müssen darum ins Verschwommene starten. Das Utopische ist Konjunktiv der Gegenwart. Es ist kein Ort, sondern eher dem Motor einer nicht mehr ganz neuen Karre vergleichbar, der durch die magischen Hände unzähliger Mechaniker:innen wandert und gegen jede Vermutung meistens doch immer wieder anspringt.

Tip of the Tongue
Unchalee Anantawat, Lars Karl Becker, Daniela Kneip Velescu
02/12/2022 – 15/01/2023

The Shophouse 1527
Bangkok, Thailand