Im Januar 2022, anlässlich der Veröffentlichung seines Videos Standart Time und gut vier Wochen vor der russischen Invasion der Ukraine, sprachen Max Eulitz und Eugen Wist über doppelte Identität, dumpfe Nostalgie und eine Kindheit im Exil.
Max Eulitz: Eugen, was ist deine erste Erinnerung an Deutschland?
Eugen Wist: 1994. Ein Rekordsommer. Zwei Monate durchgehender Sonnenschein. Wir sind an der Ostsee; ein Auffanglager in einem stillgelegten Hotel, es gibt Trinkpäckchen von Aldi.
ME: Ich nehme an, da gab es dann auch zum ersten Mal “Westfernsehen”. Dein Film erinnert mich vom Schnitt her an ein Musikvideo. Hast du in den folgenden Jahren, so wie viele Kinder der 90er, auch nächtelang MTV verschlungen?
EW: Ja, auf jeden Fall. Und das mache ich immer noch, nur jetzt sind es vor allem Youtube Videos, die mich nicht schlafen lassen.
ME: Nabokov behauptete, Menschen denken nicht in Sprache, sondern in Bildern, sonst würden wir die ganze Zeit die Lippen bewegen. In dem Film jonglierst du mit drei Sprachen, die teils über Bilder collagiert werden, teils den Lippen der Protagonist:innen folgen. Wann wird Sprache für dich zu einem Hindernis, wann zu einer Brücke?
EW: Zum Hindernis wurde Sprache als ich im Alter zwischen sechs und zehn Jahren war, eine Zeit, in der bei mir ein riesiges Mitteilungsbedürfnis herrschte und ich mangels Ausdrucksmöglichkeiten begonnen habe, starke Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen. Damit habe ich bis heute zu kämpfen. Zu einer Brücke wird sie, wenn sie mir hilft, kulturelle Kontexte mit ihren spezifischen Eigenheiten besser zu verstehen. Nicht nur die reine Übersetzung, sondern auch den Subtext.
ME: Apropos Subtext: die Szene in deinem Film, in der Boris Jelzin lallend abtritt, da kündigt er gleichzeitig Wladimir Putin als seinen Nachfolger an. Dass dieser bis heute das Land autoritär regiert und regelmäßig Nachbarländer überfällt, stört in der Russlanddeutschen-Community anscheinend nur wenige, sie gilt in weiten Teilen als AfD-nah und Regime-freundlich. Wie erklärst du dir diesen Umstand?
EW: Die Kultur; die Sprache; die Desinformationskampagnen; latenter Konservatismus; Pseudo-Patriotismus; Erfahrung mit einem korrupten Staat; die ökonomische Nähe zu anderen Migrant:innen, das hat so viele Gründe. Zu Putin als Nachfolger: Ich habe erst spät verstanden, dass ein wichtiger Grund für seine Ernennung die Sicherheit war, die er Jelzin als ehemaliger KGB-Chef garantieren konnte. Und nun, weil Geschichte sich eben doch wiederholt, steht Wladimir Wladimirowitsch 22 Jahre später vor dem selben Problem. Nur der kontinuierliche Machterhalt garantiert Schutz und Privilegien. Das setzt ihn folglich unter permanenten Zugzwang.
ME: Ich bin selber auch mit ein paar russlanddeutschen Kids aufgewachsen. In meiner Erinnerung lief die sogenannte “Integration” problemlos. Alle konnten schnell perfekt Deutsch, haben später eine Ausbildung gemacht oder studiert. Aber heute spüre ich bei einigen eine gewisse Entfremdung gegenüber ihrer Wahlheimat und eine zunehmende Gewichtung der russischen Identität. Birgt dieser identitäre Zwischenraum nicht eigentlich ein riesiges Potential? Immerhin kann man aus zwei Welten schöpfen.
EW: Theoretisch ja, doch leider scheint im Alltag die “fremde” Kultur oft eher im Weg zu stehen. Außerdem ist man ja auch gekommen, um etwas anderes hinter sich zu lassen. Ich bin mir sicher, dass es vielen aus der jüngeren Generation eher um eine generelle Identitätssuche geht. Da bieten sich simplifizierte, auf Parolen heruntergebrochene Ideale und Ideologien einfach an. Es scheint wenig Raum für Ambivalenz zu geben, stattdessen dominieren klare Positionen. Besonders Männer neigen übrigens dazu.
ME: Du vermischst ziemlich freizügig historische VHS-Aufnahmen mit iPhone Videos und professionellem Filmmaterial. Welche Bedeutung hat für dich Materialität im Medium Film?
EW: Ich denke, die Szene, in der ich dem VHS-Schnipseln wortwörtlich nachlaufe, spricht für sich. Für mich hat Film, so wie ich ihn verstehe, auch einen skulpturalen Charakter. Die Aufnahmen aus der eigenen Vergangenheit nehmen direkten Bezug auf meinen Körper. Dazu zählt auch das sentimentale Gehirn: die Arbeit ist als Loop von Erinnerungen, Gedanken und Eindrücken angelegt, die zudem eine in sich geschlossene Objekthaftigkeit annehmen.
ME: Ich lese die Arbeit ebenfalls als Loop, als Wiederholung bestimmter Formen und Rituale die sich im Laufe eines Lebens trotz kleiner Unterschiede im Grunde ständig reproduzieren. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob das eine beruhigende oder eine klaustrophobische Wirkung auf mich hat.
EW: Beides trifft sicher zu. Wobei mir der Glaube an kontinuierlichen Fortschritt schon immer suspekt war. Allein wenn man auf die vielen selbstgefälligen Ressentiments blickt, die seit Jahrhunderten fortbestehen, erkennt man, wie erfolglos Menschen gegen ihre immergleichen Neurosen ankämpfen.
ME: Biopics in der Musik, Retro-Trends in der Mode und endlose Fortsetzungen bzw. Neuauflagen von bekannten Franchises. Es scheint fast so, als ob uns nur noch der Rückblick in eine vermeintlich bessere Vergangenheit vor dem Elend der Gegenwart bewahrt. Siehst du in diesem Eskapismus eine Gefahr?
EW: Diese lauwarme Repetition verstärkt bei mir ein Gefühl der Leere. Welch vertane Chance! Dabei gibt es mittlerweile so viele Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen.
ME: Bei Günter Grass war die Zwiebel die passende Metapher, bei dir vielleicht die Matrjoschka. War es das jetzt erstmal an Aufarbeitung oder müssen da noch mehr Schichten abgetragen werden?
EW: Zukunft jetzt!