Eigentum Verpflichtet
Julian Irlinger
Galerie Wedding, Berlin
20–07–2020
by Jan Tappe
Anlässlich seiner Einzelausstellung in der Galerie Wedding sprach der Kurator Jan Tappe mit Julian Irlinger über Eigentum und Enteignung, über Besitzverhältnisse in der DDR und der BRD und warum das Wende Museum in Los Angeles eine zentrale Rolle in seiner Ausstellung 'Gift' spielt.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

Jan Tappe Aufgrund der Corona Krise musste der Ausstellungsbetrieb der Galerie Wedding zunächst komplett eingestellt werden, wie in allen anderen Ausstellungshäusern Berlins auch. Aufgrund der räumlichen Anforderungen brauchte auch das Sozialamt des Bezirks neue Räume und wurde in die Galerie Wedding verlegt, wo es vorerst noch operiert. Im Rahmen des Pandemieplans des Sozialamtes ist die Galerie als Wartebereich, Frontdesk und Aufrufbereich umfunktioniert worden. Nun werden in der Galerie an Wochentagen vor der regulären Öffnungszeit von 9 bis 11 Uhr Härtefälle bearbeitet und Personen beraten und unterstützt, die gegenwärtig durch staatliche Raster fallen. Nach der Tätigkeit des Sozialamts wird die Galerie Wedding täglich in den gleichen Räumen regulär geöffnet. Diese Tatsache schränkt die Abläufe des Ausstellungsbetriebs gravierend ein. Warum hast du dich trotzdem dafür entschieden, den Raum für deine Ausstellung so zu nutzen, wie er ist?
Julian Irlinger Grundlegend ist meine Arbeit ein offener Prozess, in dem es zu bewussten Entscheidungen kommt. „Gift“ als Schenkung an das Wende Museum in Los Angeles begibt sich in einen institutionellen Prozess, um diesen auszureizen. Nun ist die Präsentation in der Galerie Wedding durch die temporäre Nutzung des Sozialamts Teil eines institutionellen Prozesses geworden. Es ist eine Konsequenz der Pandemie, welche die öffentliche Struktur zeigt, die der Galerie zugrunde liegt. Das Bezirksamt trägt Kultur wie auch Soziales. In der aktuellen Situation wird dem Sozialamt hier Platz geboten. Rein organisatorisch war bedeutend, dass die Arbeit des Sozialamts nicht eingeschränkt wird, was die unterschiedlichen Öffnungszeiten gewährleisten. Hinzu kam die Bitte vom Sozialamt den Ausstellungsbetrieb in die Situation zu integrieren. Es würde sich nicht richtig anfühlen, die Tür zum Sozialamt zu schließen oder die Ausstellung zu verlegen, um das Gefühl eines intakten Ausstellungsraums zu simulieren.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

JT Das Projekt kreist aber nach wie vor um eine Fragestellung jenseits von Corona: Es beschäftigt sich mit Geschichtsschreibung anhand von Materialien, die Eigentumsübertragungen und Eigentumsdelikte der DDR Zeit und danach dokumentieren. Das Material ist Gegenstand einer Schenkung von dir an das Wendemuseum in Los Angeles im Anschluss an diese Präsentation. Was wird hier verhandelt?
JI Im Eingangsbereich verbindet ein vergrößertes Dokument vom Wende Museum in Los Angeles die Institution mit der Präsentation in der Galerie Wedding. Es gibt Auskunft über die Schenkung und den historischen Hintergrund der Dokumente und Fotografien, die zu sehen sind. Sie stammen aus dem Zusammenhang eines Hauses in Schönebeck an der Elbe, das von meiner Familie im späten 19. Jahrhundert erbaut wurde. Sie belegen unter anderem die Vererbung des Grundstücks an meine Großmutter, die Enteignung durch die DDR, die Rückübertragung im Prozess der deutschen Vereinigung und den anschließenden Verkauf des Hauses. Die Enteignung kam zustande, da meine Großmutter vor dem Mauerbau nach Erlangen zog, wo ich später aufwuchs. Als sie das Eigentum vererbt bekam, gab es durch eine Vollmacht noch Kontrolle darüber durch eine Bekannte. Nach der Rückübertragung des vorher enteigneten Hauses hat meine Großmutter es umgehend verkauft.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

JT Durch die angesprochene Situation in der Galerie Wedding sind die Möbel des Sozialamts Teil deiner Installation. Wie ist die Präsentation aufgebaut?
JI Die Bilder und Dokumente sind vereinzelt in beiden Ausstellungsräumen verteilt und umgeben deshalb auch die provisorisch aufgestellten Möbel des Amtes. Insgesamt suggeriert die Installation keine Vollständigkeit, weil es viele Leerstellen gibt aufgrund von fehlendem historischen Material. Es ist beispielsweise nur ein Dokument über die Rückübertragung des Eigentums vorhanden. Dieses gibt Aufschluss über die Enteignung, von der es kein anderes Zeugnis gibt. Auch die Bilder geben nur fragmentarisch einen Eindruck des Hauses. Sie zeigen nie das Herzstück des dreistöckigen Bauwerks: eine Arztpraxis. Sie zeigen lediglich den baulichen Zustand auf, da sie von einer Firma vor dem Verkauf des Gebäudes gemacht wurden, um den Wert des Eigentums zu schätzen. Sie sind hier so installiert dass wir der unbekannten Fotograf*in von außen bis unter das Dach folgen. Während die Dokumente Originale sind, handelt es sich bei den Bildern um Scans von Fotografien der Schenkung, die vergrößert an die Wände tapeziert sind.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

JT Das originale Ausgangsmaterial der Installation wird im Anschluss durch dich als Stifter an die Sammlung des Wende Museum in Los Angeles übergeben, um für den Ausstellungsbetrieb und die Forschung als historisches Artefakt zur Verfügung zu stehen. Im ersten Moment hört sich die Idee eines DDR-Museum mitten in Los Angeles etwas skurril an, aber es geht bei dem Projekt darum diesen Umstand genauer zu beleuchten. Wieso übergibst du die Dokumente nicht einfach an eine geeignete Institution in Deutschland?
JI Ich denke dass die geografische Verschiebung nach Los Angeles die Möglichkeit bietet, Geschichte aus einem anderen Selbstverständnis zu artikulieren. Das kann vereinheitlichende historische Narrative unterlaufen. Ich bin mir aber auch bewusst dass dieses Geschenk Risiken birgt. Als ich erfuhr, dass sich die größte Sammlung von DDR Artefakten in Los Angeles befindet, war ich erstaunt wie jüngere Geschichte außerhalb der Grenzen und Handlungsmacht des deutschen Staates entsteht. Die Erinnerungskultur in Form historischer Museen sind schließlich wichtig für die Repräsentation der Vergangenheit einer Gemeinschaft. Ich fragte mich wie im Wende Museum Geschichte repräsentiert wird. In LA werden schließlich Relikte des einstigen Gegners ausgestellt. Als ich durch ein Reisestipendium die Gelegenheit bekam das Museum kennen zu lernen, zeigte sich dass dort kein US Siegermythos beschworen wird. Das verdeutlicht sich schon in der internationalen Zusammenarbeit des Wende Museums mit zahlreichen Institutionen. Das Museum leistet einen Beitrag für die Wahrnehmung jüngerer europäischer Geschichte auf dem amerikanischen Kontinent.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

JT Du hast eingangs erwähnt, dass du in einem offenen Prozess arbeitest. Wie lief dieser ab und wovon wurde er beeinflusst? Wie kam es zur Idee der Schenkung und deiner Rolle als Stifter der Artefakte?
JI Als ich im Wende Museum war begann ich das Archiv zu durchforsten, um mich damit vertraut zu machen und Material für eine Arbeit zu suchen, was nicht funktionierte. Während ich das Archiv besuchte, bekam ich mit wie Schenkungen das Archiv beeinflussen und somit die Möglichkeit Geschichte zu formulieren. Die Idee etwas zu schenken kam mir, als ich miterlebte wie die Archivarin mit einer Kollegin über die Kriterien sprach, die ein Artefakt für die Sammlung qualifizieren. Zu dem Zeitpunkt wusste ich jedoch nicht was ich übergeben würde. Später fand ich beim Umzug meines Vaters eine Kiste mit dem Nachlass meiner Großmutter und darin die Unterlagen aus dem Zusammenhang des Hauses in Schönebeck, worauf ich den Gedanken wieder aufnahm. Als ich mit den Unterlagen an das Museum trat hieß es, dass die Institution diese nicht sammelt, da man davon ausgeht, dass genug solcher Dokumente in Deutschland erhalten wären. Diese Annahme ist jedoch nicht überprüfbar und ich war erstaunt, da die Unterschiede moderner politischer Systeme fast nirgendwo deutlicher werden als in den Eigentumsauffassungen von DDR und BRD. Schließlich wurde entschieden die Schenkung anzunehmen, wenn sie als Kunstwerk konzipiert wird, was für mich keinen Konflikt darstellt. Nun hat die Institution bereits eine eindeutige Identifikationsnummer bereitgestellt. Es wird der erste Gegenstand aus diesem Zusammenhang in der Sammlung sein und somit die institutionell festgelegte Grenze des Archivs neu definieren.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

JT Auffallend ist deine Beziehung zu dem Material, das von deiner Familie stammt, und die Tatsache dass du wiederum in Westdeutschland aufgewachsen bist. Welche Bedeutung hat es für dich, dass das Material aus dem Nachlass deiner Großmutter stammt?

JI Persönlich liegt es mir fern ein Familienporträt entstehen zu lassen. Ich selbst wusste nichts von dem Haus, als ich die Unterlagen fand. In meiner Familie sprach man auch nie über eine Verbindung zur DDR. Ich denke dies ist eine Art der Unterdrückung, in welcher der Prozess der Vereinigung nachhallt. Ich muss daran denken was der Soziologe Daniel Kubiak über die Konstruktion nationaler Identität zur Nachwendezeit schreibt. Er beschreibt, dass es zur Angleichung der Ostdeutschen an die Normen der westdeutschen Mehrheit kam, was zu einer Unterdrückung der DDR Kultur und Identität führte. Dieser Prozess sicherte die Überlegenheit der westdeutschen Kultur. Es verwundert also nicht, dass eine identitätsstiftende Verbindung zur DDR von Westdeutschen in vielerlei Hinsicht unterdrückt wurde. Wenn ich mit diesem gefundenen und vererbten Material aus DDR Zusammenhängen arbeite, beschäftigt mich wie vereinheitlichende Narrative, die eindeutige Rollen vergeben, aufgeweicht werden können.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

JT Hier drängt sich die Frage auf, was die Enteignung durch die DDR und die Rückübertragung im Zuge der deutschen Vereinigung bedeuten?
JI Die Logik der Assimilation von Ost an West die Kubiak beschreibt, ist auch auf legaler Ebene nachvollziehbar. Das „Gesetz zur Klärung für offene Vermögensfragen“ überschrieb das sozialistische Eigentumsrecht und wurde zur Bedingung von Rückübertragungen. Da die DDR als sozialistischer Staat eine andere Auffassung von Eigentum hatte als die BRD, kam es damals zu Enteignungen von sogenanntem Westeigentum, um damit Volkseigentum zu generieren. Aus Sicht der DDR handelte es sich um keine destruktive Enteignung, sondern um eine Inanspruchnahme, die dem Kollektiv als Volkseigentum diente. Es war eine Verteilung von Gütern, die jedoch durch die nationalstaatlichen Grenzen nur die Bürger*innen der DDR betraf. Die Rückübertragung in den frühen 1990ern orientierte sich an den Eigentumsgesetzen von Westdeutschland. Ich verstehe die Rückübertragungen deshalb nicht nur als eine Kompensation für die Enteignungen, sondern auch als ein ökonomisches Manöver. Die sozialistische Planwirtschaft wurde damals umgehend in die Soziale Marktwirtschaft transformiert. Diesem Prinzip folgend wurde das Haus direkt nach der Rückübertragung an meine Großmutter von ihr verkauft. Die Präsentation in der Galerie Wedding zeigt unterschiedliche Facetten des Eigentums und reduziert eben nicht die DDR zur Enteignenden und meine Großmutter zur Enteigneten.
JT Die Galerie Wedding ist ja eine Art Startpunkt für das Projekt - zumindest im Sinne einer öffentlichen Sichtbarkeit. Würdest du kurz erklären, wie das Projekt strukturiert ist und was für unterschiedliche Stationen und Ebenen es hat?
JI Wir beginnen mit einer Präsentation in der Galerie Wedding, wo das Material der Schenkung verhandelt wird und die Geste der Schenkung reflektiert werden kann. Anschließend wird das Ausgangsmaterial an das Wende Museum übergeben, um als historisches Artefakt archiviert zu werden. Es wird im Wende Museum zu einer weiteren Präsentation kommen, die einen anderen institutionellen Status aufzeigt, da es ein historisches Museum ist. Was die Situation in Los Angeles betrifft und welche Präsentation es gibt, wird sich noch zeigen. Aber generell vollzieht sich ein Wandel vom Fund aus dem familiären Archiv zum Kunstgegenstand, der letztlich historisches Artefakt wird. Die Präsentation in der Galerie Wedding nimmt dabei eine besondere Rolle ein. Hier wird das Material in eine offenere Beziehung zum Raum gesetzt als in den Displays des historischen Wende Museum, wodurch unterschiedliche Interpretationen möglich sind.

Julian Irlinger, 'Gift', 2020, exhibition view, Galerie Wedding, Berlin. Courtesy: the artist and Galerie Wedding, Berlin; photograph: GRAYSC

Julian Irlinger – Gift
11. Juni – 25. Juli 2020
Galerie Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst
Müllerstraße 146/147
13353 Berlin
Julian Irlinger studierte Kunst an der HGB Leipzig und der Städelschule in Frankfurt am Main bevor er am Whitney Independent Study Program in New York City teilnahm. Er hatte unter anderem Einzelausstellungen im Wilhelm-Hack-Museum (Ludwigshafen), der Galerie Thomas Schulte (Berlin), und der Kunsthalle Darmstadt. Er war Teil von Gruppenausstellungen im MMK Frankfurt, artists space (New York), der Kunsthalle Wien und anderen. Seine Publikationen »byproducts/matters«, »props« und »Fragments of a Crisis« sind veröffentlicht worden von Spector Books. Irlinger erhielt unter anderem Stipendien, Förderungen und Preise von der Hessischen Kulturstiftung, den Campari Art Prize, dem Kunstfonds Bonn, den Förderpreis Kunsthalle Darmstadt, der Kulturstiftung Erlangen.