Seit 1992 filmt Helke Bayrle jeden Ausstellungsaufbau im Portikus mit ihrer Videokamera. Auf der Website Portikus Under Construction wird ihr gesamtes Archiv von bisher 219 Videofilmen öffentlich zugänglich gemacht. Sunah Choi sprach mit Bayrle über die Anfänge ihres Projekts, den Einfluss der Kamera auf die Künstler*innen und über die Signifikanz von Nebensächlichkeiten. Anlässlich des aktuell geschlossenen Portikus publizieren wir ihr Gespräch erstmals online.
Sunah Choi Du nimmst seit 1992 konsequent den Aufbau der Ausstellungen im Portikus mit der Videokamera auf. Wie hat es angefangen?
Helke Bayrle Das hatte mit Kevin Slavin zu tun. Er war 1992 Austauschstudent der Cooper Union an der Städelschule und hat damals im Atelier von Thomas Bayrle gearbeitet. Er hat eine Kunstaktion gemacht und mich gefragt, ob ich Lust hätte ihn zu begleiten, weil ich damals in der Schule die Einzige war, die eine Videokamera hatte. Das ging über einen ganzen Monat und an alle möglichen Stellen in der Stadt. Es ist ein schöner Film über Frankfurt am Main geworden, auch weil sich inzwischen viel in der Stadt verändert hat. Um Kritik zu hören, habe ich den Film in der Filmklasse gezeigt. Ich wollte es wenn, dann schon richtig und gut machen. Die Studenten waren so begeistert. So hat es angefangen.
SC Bevor du dich mit der Videokamera beschäftigt hast, hast du auch fotografiert. Hat es dich schon immer interessiert, Momente fotografisch oder filmisch festzuhalten?
HB Auf jeden Fall. Es hat mir Spaß gemacht. Aber mir waren die statischen Fotografien, die ich damals gemacht habe, nicht genug. Ich wollte die Menschen gern in Bewegung sehen und es ist mir bis heute sehr wichtig, Menschen in Aktion zu zeigen. Das ist ein wichtiger Aspekt, der etwas mit meinem Gefühl zu tun hat. Mit der Videokamera bin ich viel zufriedener geworden. Man kann sehr spontan filmen. Für die Dokumentation im Portikus war die Videokamera das Richtige. Es war mir auch immer unangenehm, Personen mit dem Fotoapparat zu fotografieren. Ich wollte nicht Person gegenüber stehen und die Kamera auf sie halten.
SC Du bist seit langem mit der Kunstwelt verbunden, vor allem auch durch deinen Mann Thomas Bayrle, der ein Künstler ist und fünfundzwanzig Jahre lang an der Städelschule gelehrt hat. Inwiefern war diese Teilnahme an der Kunst und eure Bekanntschaften ein Grund, dich mit den Ausstellungen und Künstlern im Portikus zu beschäftigen?
HB Wie du sagst, bin ich über viele Jahre mit der Kunst zusammen gewachsen. Schon in meiner Schulzeit habe ich mich für jede Art von Kunst interessiert. Dann lernte ich ausgerechnet einen Künstler kennen. So haben wir alles gemeinsam erlebt, ich kannte viele Künstler, so wie Sigmar Polke oder Gerhard Richter zum Beispiel. Bei ihnen hatte ich das Gefühl, dass ich sie einfach fragen kann, ob ich filmen darf. Es war also nicht mehr schwierig, mit dem Filmen zu beginnen und über Künstlerporträts nachzudenken.
SC Welches sind für dich wichtige Aspekte und Prinzipien in deinen Videoaufnahmen?
HB Einerseits, dass ich sehr emotional vorgehe. Und dass ich aus der Hand filme, nicht mit dem Stativ. Mich hat interessiert, wie man den Künstler als Mensch erfassen kann, wie er seine Arbeit selbst erlebt, vertritt und aufbaut. Ich habe ein Feingefühl dafür entwickelt, wann meine Präsenz für die Künstler zu viel wird. Dann gehe ich einfach für zwei Stunden weg und komme wieder. Am besten ist es, nicht aufdringlich zu sein. Je mehr ich filme, desto mehr verstehe ich. Es geht mir immer darum, dass ich die Ausstellungen am Ende restlos verstehe. Was der Künstler sagen will und warum er bestimmte Dinge so oder so macht. Manchmal frage ich direkt nach.
SC Deine Videos zeigen die letzten Produktionsschritte einer Ausstellung, den Hintergrund, der der Öffentlichkeit normalerweise verborgen bleibt. Was ist deine Intention bei diesen Produktionsporträts, und wie siehst du sie im Verhältnis zu anderen dokumentarischen Kunstfilmen oder dem Fernsehen?
HB Es ist mir ein zentrales Anliegen, dass ich mich nicht an Formaten aus dem Fernsehen orientiere. Ich halte nichts von dieser Art von Perfektionismus, auch nicht in technischer Hinsicht. Mir ist es wichtig, dass die Videos so knapp wie möglich geschnitten sind, dass man dennoch den Inhalt der Ausstellung gut verstehen kann und die Art, wie Kunst aufgehängt oder installiert ist. Dadurch sind die Videos unterschiedlich lang. Ich habe Künstler nie interviewt. Entweder konzentriere ich mich auf das Bild oder ich diskutiere später mit ihnen. Der Aufbauprozess, den ich aufnehme, ist ein Handwerk, wie Musik oder Literatur. Mir ist die Rolle, in der der Künstler oft dargestellt wird, unangenehm. Wenn ich mit meiner Kamera eine Woche lang jeden Tag beim Aufbau anwesend bin, ist alles viel selbstverständlicher. Ich bin quasi integriert in den Aufbauprozess. Es gibt keinen filmtechnischen Aufwand.
SC Hat die Anwesenheit der Kamera einen Einfluss auf die Künstler während des Aufbaus? Ich kann mir vorstellen, dass jeder unterschiedlich mit der Situation umgeht. Findet eine Art von Austausch zwischen dir und den Künstlern statt?
HB Irgendwie habe ich es immer geschafft, dass es am Ende harmonisch war, also nie ablehnend. Zum Beispiel bei Francis Alÿs: da war es zunächst eher abwartend auf beiden Seiten. Dann hat er ein Bild von sich aufgehängt, eine Art Fontana. Ich habe ihm erzählt, dass ich Fontana 1966 in Mailand kennengelernt habe. So kamen wir ins Gespräch, und dann war es in Ordnung, ihn zu filmen. Er hatte selbst keine Hemmung mehr. Oft ist es eine Art gegenseitiges Abtasten. Gabriel Orozco zum Beispiel war streng und wusste genau was er wollte. Das erste, was er sagte, war: „Mit dem Besen in der Hand will ich nicht gefilmt werden.“ Er wollte das unter keinen Umständen, was ich sehr gut verstehen kann.
SC Filmen hat ja sehr viel mit Intuition zu tun.
HB Ja, man muss einfach warten können, bis sich die Situation ergibt. Das kann auch mal zwei Stunden dauern oder einen halben Tag. Ein guter Lehrer hat einmal zu mir gesagt: „Kill your Darlings!“ Das war sehr prägend und wichtig, um nicht in eine Art Kunstreportage zu verfallen. Ich will eine gute Aufnahme haben, aber dem Inhalt des Künstlers entsprechend. Wenn man durch die Kamera sieht, hat man einen ganz anderen Blick auf Kunst.
SC In welchen Kontexten hast du die Filme bisher gezeigt?
HB An mehreren Orten, vor kurzem zum Beispiel vor Studenten der Wiener Kunstakademie. Ich finde es sehr sinnvoll, die Filme in Kunstakademien zu zeigen, weil ich eine Art pädagogisches Anliegen habe. Die Filme handeln davon, wie in einem weißen, viereckigen Raum immer wieder etwas Neues entstehen kann. Es sind inzwischen so viele Variationen von Raumgestaltungen, die für junge Künstler und ihre Arbeit sehr interessant sein müssen. Genauso, wie es interessant ist, die Künstlerpersönlichkeiten zu sehen und zu hören, was sie während des Aufbaus, aber auch bei den Pressekonferenzen sagen.
SC Warum hast du dich ausschließlich auf den Portikus konzentriert?
HB Irgendwann habe ich mich entschlossen, nur im Portikus zu filmen, obwohl ich zu Anfang noch probiert habe, um mich herum eine Art Tagebuch zu machen. Die Ausstellungen im Portikus finde ich sehr interessant und faszinierend. Das ist eine Mischung von internationalen Künstlern, die man so sonst nirgends zu sehen bekommt.
SC Der Portikus war bis jetzt an drei Orten zu Hause. Welchen Einfluss hatten deiner Wahrnehmung nach die unterschiedlichen Raumsituationen auf die Ausstellungen?
HB Der erste Portikus an der Schönen Aussicht war eine geniale Konstruktion aus drei Containern hinter dem Portal der ehemaligen Deutschen Bibliothek. Die Geschichte des Ortes und der provisorische Charakter der baulichen Situation haben mehrere ortsbezogene Projekte und Eingriffe in die Architektur herausgefordert. Die zweite Station des Portikus im Leinwandhaus war von Tobias Rehberger und Olafur Eliasson originell konzipiert. Dadurch wurden die relativ kleinen, eher schwierigen Raumverhältnisse für Ausstellungen bespielbar. An diesem Ort wurden meiner Erinnerung nach mehrere Ausstellungen mit Videos oder kleinere Installationen gezeigt. Es gab zum Beispiel einen Beitrag von Cildo Meireles, der es geschafft hat, innerhalb dieser Räume eine totale Veränderung zu schaffen. Der neue Portikus auf der Maininsel hat wieder andere Möglichkeiten. Dementsprechend sind die Ausstellungen anders. Paola Pivi hätte im Leinwandhaus nicht ausstellen können, im ersten Portikus an der Schönen Aussicht schon. In ihrer Ausstellung im neuen Portikus konnte man hoch auf den Balkon gehen und die ganze Installation von oben betrachten.
SC Du bist in einer besonderen Situation, die Künstler bei der Vorbereitung der Ausstellungen nahe erleben zu können. Wie interessant ist es, die Persönlichkeit der Künstler im Zusammenhang mit den Kunstwerken zu beobachten?
HB Sehr. Sie sind so unterschiedlich wie die Blätter an den Bäumen. Einzelne Künstler scheinen mit ihrer Arbeit identisch zu sein, andere überhaupt nicht. Es kommt natürlich vor, dass mir nicht jede Ausstellung gefällt. Aber dann ist Neugier da, und der Wille, das Ganze dennoch gewissenhaft und gut zu machen. Eine Meinung kann ich zwar haben, aber ich möchte die Arbeit der Künstler nicht werten.
SC Ich möchte gerne noch mehr über deine Faszination für die Kamera und den Blick durch die Kamera erfahren.
HB Für mich ist Filmen eigentlich wie ein Wunder. Meine erste Hi8-Kamera war sehr faszinierend für mich. Man bekommt einen ganz anderen Blick durch die Kamera. Damals hat Kevin Slavin kleine Schiffe in Flaschen gesteckt und sie in den Main geworfen. Die Kamera war wie ein Fernglas, ich konnte langsam zoomen und die Schiffe in den sich entfernenden Flaschen noch lange sehen. Wenn du eine Kamera in der Hand hast, schaust du präziser und schärfer hin und versuchst, die bestmöglichsten Bilder zu erwischen, also das bestmöglichste Bild aus der Bewegung zu machen.
SC In deinen Videoaufnahmen geht es um die genaue Beobachtung von Personen. Aber es gibt auch einen besonderen Blick auf fast nebensächliche Details, die in einen Zusammenhang mit den gefilmten Personen gebracht werden. Es geht nicht um das Dokumentieren oder Aneinanderreihen von Ereignissen. Man sieht Strukturen in deinen Aufnahmen. Außerdem bist du offen für Unvorhersehbares, häufig entscheidet die Situation vor Ort die Richtung der Aufnahmen.
HB Es kann sein, dass das Filmen einer Nebensache plötzlich für das Verständnis der Hauptsache wichtig wird. Manche Gegenstände, die während des Aufbaus herumliegen oder -stehen, regen mich an. Indem ich sie bemerke und filme, ziehen sie mich über die Dokumentation hinaus – in strukturelle Bereiche und andere Richtungen. Daniel Buren hat zum Beispiel eine Konstruktion gebaut, die komplett aus farbigen Quadraten bestand. Ich habe ihn damals gefilmt, wie er für einige Sekunden in einem seiner Quadrate wie eingerahmt stand.
SC Der Umgang mit Zeit ist eine zentrale Frage beim Filmen. Nicht nur in dem Sinn, dass man das gesammelte Material beim Schneiden auswählt und reduziert. Es gibt auch Geschehnisse, die sich nicht wiederholen lassen. Wie kann man in manchen Momenten das Filmen fortsetzen, ohne das Gefühl zu haben, etwas verpasst zu haben?
HB Das ist manchmal Glückssache. Ich bin mit der Videokamera schneller als mit einer Fotokamera, die erst eingestellt werden müsste. Es gibt Situationen, die ich gerne gefilmt hätte, aber nicht erwischt habe. Beim Weiterfilmen habe ich sie allerdings immer noch im Kopf, weil sie mir sehr gefallen haben. Es geht nichts verloren. Du verarbeitest es selbst in späteren Aufnahmen noch mit. Ich muss aber auch nicht unbedingt alles filmen. Manches wird zu einem kleinen Geheimnis, etwas, von dem ich weiß, aber das nicht unbedingt im Film gezeigt werden muss. Filmen ist eine Arbeit, während der ich sehr konzentriert bin. Ich muss den Überblick über die Situation und das bereits aufgenommene Filmmaterial behalten. Am Anfang kannst du nicht wissen, was am Ende daraus wird.
SC Wie haben deine filmischen Beobachtungen und Erlebnisse im Portikus dein Verständnis für Kunst beeinflusst?
HB Restlos! Wenn man hinschaut, genau hinschaut, kann man sehr viel über Kunst lernen. Es ist vor allem wichtig, offen zu sein. Ich möchte weiterhin offen sein für jede Idee, die mir kommt. Dann passiert es, dass sich etwas öffnet und sich irgendwo wieder schließt, es ist wie ein Kreis. Ich möchte mir und den Künstlern das Gefühl von Freiheit geben, nicht von Einengung.
Alle bislang entstandenen Videos von Portikus Under Construction können in voller Länge hierangesehen werden. Das hier angelegte Archiv ist jedoch längst noch nicht abgeschlossen und wird über die nächsten Jahre immer weiter wachsen.
Helke Bayrle wurde 1941 in Thorn geboren. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main, seit 1969 arbeitet sie zusammen mit Thomas Bayrle. Sie hatte Einzelausstellungen bei Tanya Leighton, Berlin; Ludlow 38, New York; Peep-Hole, Mailand und im Portikus, Frankfurt am Main.
Das Gespräch zwischen Sunah Choi und Helke Bayrle fand in Frankfurt am Main im April 2009 statt, als Beitrag zur DVD-Edition Portikus Under Construction (Sternberg Press, Berlin, 2009) von Helke Bayrle und wurde in gedruckter Form erstmals in der gleichnamigen Publikation mit Beiträgen aller Kuratoren des Portikus veröffentlicht (Sternberg Press, Berlin, 2017, Hrsg. Fabian Schöneich).