The exhibition Unextractable. Sammy Baloji invites at Kunsthalle Mainz
Die (Kunst)Welt ist zerrissen. Polaritäten, Ausschlüsse, Anfeindungen – all das scheint die Reaktion auf eine globale Krise zu sein, der nicht mit Empathie begegnet werden kann – denn dies würde ein Gegenüber erfordern. Wenn aber dieses Gegenüber (es sind Viele) als Bilder von brutaler Unterdrückung, Militärgewalt und Terror in sozialen Netzwerken existiert; Oder aufgrund von geopolitischer Lage und vermeintlicher religiöser Zugehörigkeit entmenschlicht und delegitimiert wird – dann wird die Mannigfaltigkeit von Empathie unmöglich gemacht. Es entstehen feindselige Lager, die sich gegenseitig reproduzieren.
Vor diesem Hintergrund klingen die Worte von Julia Tröscher in doppeltem Sinne wie ein Mahnruf: You are a bridge or something inbetween... Hatte die Kunst bisher nicht den wichtigen Platz für sich beansprucht, Brücken schlagen zu können? Und ist es nicht gerade die Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Ambivalenzen, die sie so wertvoll macht?
Tröschers Arbeit ist Teil der Ausstellung Unextractable in der Kunsthalle Mainz, die künstlerische Zusammenarbeit ins Zentrum rückt und Hoffnung gibt, dass multiple Perspektiven auch in einer von Kolonialismus und Kapitalismus zerrütteten Welt eine Konversation eingehen können.
Ankerpunkt ist der Künstler Sammy Baloji, der 2008 gemeinsam mit befreundeten Künstler*innen das Kunstzentrum Picha in seiner Heimatstadt Lubumbashi im Südosten der Demokratischen Republik Kongo gründete, das seitdem die Lubumbashi Biennale ausrichtet. Da es keine Kunstschule in der Bergbaustadt gab, sollte mit Picha und der Biennale ein kreatives Umfeld geschaffen werden, das die Künstler*innen vor Ort in ihrer Arbeit unterstützt und durch Workshops, Gesprächsräume und Residenzprogramme langfristige Beziehungen stärkt. Immer mit Fokus auf der erlebten Prekarität im Alltag, der sehr präsenten Kolonialvergangenheit und den extraktivistischen Ökonomien, die den öffentlichen Raum prägen. In Kooperation mit Framer Framed Amsterdam, der Lubumbashi Biennale und dem Forschungsprojekt Reconnecting „Objects” hat Sammy Baloji gemeinsam mit der Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin Lotte Arndt nun zwölf Künstler*innen aus dem Umfeld von Picha nach Mainz eingeladen.
Bereits beim Betreten der Halle 1 des historischen Backsteinbaus der Kunsthalle Mainz, einem der zentralen Räume der Ausstellung, zeigt sich die künstlerische Handschrift von Sammy Baloji: Artefakte, Spiegelcollagen, Archivmaterial und Video sind zu einer raumgreifenden Installation zusammengefügt, die den kritisch-forschenden Geist der Betrachter*innen einfordert. Die Stille des White Cube, der sich in Richtung Rhein zum Alten Turm des Gebäudes hin erstreckt, wird durch den rhytmischen Sprechgesang des Schriftstellers Fiston Mwanza Mujila (auch Autor des Romans Tram 83) und der begleitenden Jazzmusik von Patrick Dunst and Grilli Pollheimer gebrochen. Gezeigt wird hier der Film Kasala. The Slaughterhouse of Dreams or The First Human, Bende’s Error in Boycotting the Creation (2019), den Sammy Baloji auf Grundlage der Videoaufnahme einer Performance entwickelte, zu der er den Schriftsteller und die Musiker während der Eröffnung der Ausstellung Kongo als Fiktion – Kunstwelten zwischen Geschichte und Gegenwart im Rietberg Museum in Zürich von 2019 eingeladen hatte. Mujila trug dort sein komponiertes Kasala vor, ein Gedenkgedicht, das in der mündlichen Tradition der Bevölkerungsgruppe der Luba im Norden der DR Kongo praktiziert wird. Historisch waren es Mbudye, Initiierte, die für die Weitergabe historischer Erinnerung zuständig waren, die bei Beerdigungen und anderen Festlichkeiten ein Kasala rezitierten und sich dabei auf wichtige historische Ereignisse und die Genealogie berühmter Personen bezogen. Fiston Mujila Mwanza’s Version des Gedichts erzählt die fragmentierte Geschichte der ‚Ungehörten‘, der Aufstände von Bergarbeiter*innen in Katanga, die von Regierungstruppen blutig niedergeschlagen wurden und symptomatisch für die lange Reihe politischer Morde in der DR Kongo stehen. Zu diesen gehören auch die Tötung von Premierminister Patrice Lumumba im Jahr 1961 oder Thérèse Kapangala im Jahr 2018, einer Aktivistin, die an Protestmärschen gegen das Regime des ehemaligen Präsidenten Joseph Kabila teilnahm.
kasala 78
the masquerade
or the rancid concerto
of the carnivores
of the carrion feeders
of the cutthroats
of the first rain
avid for blood and sperm
goes on forever
kasala 22
dreams nipped in the bud?
kasala 28
the masquerade
of the carnivores
blows up in our face
the masquerade
of the traffickers
incites financial collapse
in the sickly spiral
of this broken beautiful word
kasala 11
before memory begins to play
its tricks on us
shall we spike the djudju juice
with a little alcohol
or name off the entire genealogy
gunned down? [1]
Das Video gehört zu Sammy Baloji’s multimedialer Installation Kasala: The Slaughterhouse of Dreams or The First Human, Bende’s Error in Boycotting the Creation (2020), die die Ausstellung programmatisch eröffnet. Ausgangspunkt ist die langjährige Auseinandersetzung des Künstlers mit europäischen Museumssammlungen und kolonialen Archiven, die er in ein Spannungsverhältnis zu den Überlieferungspraktiken der Luba-Gesellschaften stellt. Entsprechend wirkt das Jagdhorn, das in zentraler Position des Raumes in einer Glasvitrine ausgestellt ist, wie die logische Konsequenz des dokumentarischen Verfahrens des Künstlers. Wie politisch die Präsenz des Objektes und die damit verbundenen Zusammenhänge sind, wird bei genauerer Betrachtung deutlich. Nicht nur findet sich sein Äquivalent in der Videoaufnahme wieder, auch auf einer unscheinbaren Fotografie, direkt am Eingang des Raums, ist das Jagdhorn zu sehen. Die Fotografie stammt aus dem Archiv des Königlichen Museums für Zentralafrika in Tervuren und zeigt ein mit zahlreichen kolonialen Jagdtrophäen dekoriertes Wohnzimmer. Hier drängen sich Fragen nach Gier und Gewalt der räuberischen Aneignung auf. Entgegen der historischen Szenerie scheint das Objekt in der sterilen Umgebung der Ausstellung auf den ersten Blick stumm – eine vom Künstler bewusst gewählte Geste der Dekontextualisierung, die in europäischen Museen gängige Praxis ist. Auf der Oberfläche befindet sich jedoch ein Ornament – eine Skarifizierung. Sie ist der Ausdruck einer kodifizierten Sprache, der sich Sammy Baloji bedient und deren Bedeutung nur den Initiierten vorbehalten ist. Durch diesen Eingriff werden der musealen Aneignung und Klassifizierung eine Grenze gesetzt und die Widerständigkeit des Artefakts hervorgehoben.
Im selben Raum setzt sich auch Julia Tröscher mit dem Kasala auseinander und zeigt ihre persönliche Reinterpretation der Gedichtform als Kombination aus Video There was a Never, there was a Yes (2023), dem Text Venus Transit (2023) und der einer Sitzbank nachempfundenen Skulptur Yes/Emotion (2023). Die Arbeit geht aus einem Workshop hervor, den Sammy Baloji im Kontext seiner Doktorarbeit zu kulturellen Überlieferungen an der Kunsthochschule Sint Lucas in Antwerpen gab, wo Tröscher lebt und arbeitet. Im Film überlagert die Künstlerin Bild und Text und verwebt Momente der eigenen Familiengeschichte und westlicher Erinnerungspraktiken mit kosmologischen Narrativen.
fish human, human, mother, singularity, rhizome, a question
born everyday, long before time, over and over
you come before me, and before Mama, Oma, mothers
Before the 31st of May, 1997, between summer and spring
before Mama, on the 26th of December 1963, two days after the night of Christmas
And before Jutta on the 15th of June 1940, the early days of Second World War
How far I follow the line of mothers
No matter the event
you are already there
At the cut section of the universe
impossible for me and my mothers, not impossible for you!
fish human, human, mother, singularity, rhizome, question
you are a bridge or something inbetween [2]
Zentrale Figur ist ein Fisch, der durch die Genealogie der Künstlerin navigiert, und als Keramikfigur von Wasser zu Luft, von Hand zu Hand gleitet. So passiert er Zeitschichten, Verwandtschaften und Elemente – kommt in Kontakt mit Großmüttern, Müttern und Töchtern, die im Einklang mit sich und ihrer Umgebung zu existieren scheinen. Eine Sitzbank lädt die Besucher*innen ein, von dort aus den Film anzusehen. Sie ist den Bänken am Ufer des Rheins in Mainz nachempfunden und mit einem Relief aus Symbolen verziert, die mit der filmischen Erzählung korrespondieren. Dadurch schafft die Künstlerin eine immersive Situation, in der alltägliche Erfahrungen, wie das Sitzen auf einer Bank oder das Spielen mit Wasser, mit spekulativen Gedanken verschwimmen.
In der Gegenüberstellung der beiden Künstler*innen wird aber auch deutlich, wie unterschiedlich ihre Bezugspunkte sind. Entsteht durch das Kasala in Sammy Baloji’s Arbeit eine Form der Erinnerung, die als Geste der Reparatur kolonialer Disruption in der DR Kongo verstanden werden kann, fungiert die Interpretation des Kasala bei Tröscher als ein subjektives Gedankenspiel über die kosmologische Verbundenheit von Mensch und Natur. Gleichwohl die Umstände konträrer nicht sein könnten, steht dahinter der künstlerische Austausch, der es erlaubt, einen Raum der korrespondierenden An- und Wiederaneignung zu schaffen. Segregierte Diskurse treten in Kontakt.
Die dritte Arbeit in Halle 1 ist ein kollaboratives Projekt der Künstlerin Nilla Banguna aus Lubumbashi, die als Stylistin und Textildesignerin arbeitet. Seit 2018 ist sie Artist-in-Residence bei Picha und kooperiert mit einer Gruppe von Frauen aus dem Dorf Makwacha, 45 Kilometer von Lubumbashi entfernt. Über Generationen hinweg haben die Frauen aus dem Dorf eine kulturelle Praxis fortgeführt, indem sie jährlich die Außenwände ihrer Häuser mit Malereien aus Tonerde versehen, die dann zur Regenzeit wieder weggespült werden. Entgegen der westliche Fetischisierung von Kulturpraktiken, zu der die Zurschaustellung des ‚Originals‘ in Museen zählt, sind in Mainz keine der Malereien zu sehen. Stattdessen entwickelte die Künstlerin für Unextractable neue Textilarbeiten in Zusammenarbeit mit ihrer Schwester Patricia Banguna Kazadi und zwei Frauen aus dem Dorf, Fernande Musha Sebelwe und Josephine Kyungu Muloba. Es handelt sich um lange Stoffbahnen, die von der Decke des Ausstellungsraums bis zum Boden reichen und mit Zeichnungen und Siebdrucken versehen sind, die repetitive Muster aus Pflanzen, Ornamenten und Tieren zeigen. Die Frauen übertragen die lokale Bildpraxis der Wandmalerei auf beweglichen Baumwollstoff, der sie zirkulieren lässt und zugleich in neue Zusammenhänge bringt. Teil der Zusammenarbeit war die Ausrichtung eines Catwalks in Makwacha, den die Künstlerin mit Hilfe der Dorfbewohner*innen baute und Interessierte dazu einlud, die aus den Stoffen gefertigte Mode zu präsentieren. Nach der Ausstellung soll Bangunas Projekt auf der Dak'Art Biennale 2024 gezeigt werden.
In vier weiteren Räumen der Kunsthalle Mainz ziehen sich diese und andere Arbeiten fort und reflektieren Lebensformen und Erinnerung in einer postkolonialen und von kapitalistischer Weltwirtschaft geprägten Gegenwart. Dabei beschränkt sich die Ausstellung nicht darauf, hegemoniale Erzählungen umzuschreiben, sondern zeigt kollektive Strukturen und Vielstimmigkeit auf, die als kraftvoller Ausdruck des Widerstands gegen die ruinösen Hinterlassenschaften im Gedächtnis bleiben. Der Zerstörung von Wissen, Umwelt und sozialen Kontexten werden die langjährigen Verbindungen Sammy Balojis mit anderen Künstler*innen und Theoretiker*innen entgegengestellt, die ihren jeweils eigenen Blick und mitunter sehr unterschiedliche Herangehensweisen präsentieren. Es ist dieser künstlerische Austausch, der Räume für Begegnung und Neuerfindung öffnet und nicht zuletzt deshalb über die Dauer der Ausstellung nachwirkt.
[1] Auszug aus The Slaughterhouse of Dreams or the First Human, Bende’s Error in Boycotting the Creation (2019), übersetzt von J. Bret Maney.
[2] Auszug aus Venus Transit (2023) von Julia Tröscher.
Unextractable: Sammy Baloji invites
27/10/2023 – 11/02/2024
With Sammy Baloji, Nilla Banguna, Jackson Bukasa & Dan Kayeye & Justice Kasongo, Sybil Coovi Handemagnon, Fundi Mwamba Gustave & Antje Van Wichelen, Franck Moka, Hadassa Ngamba, Isaac Sahani Dato, Georges Senga, and Julia Tröscher.
Co-curated by Lotte Arndt, Yasmin Afschar and Marlène Harles, in collaboration with Picha, Lubumbashi, Framer Framed, Amsterdam and Reconnecting "Objects" (Technische Universität Berlin).
Kunsthalle Mainz
Am Zollhafen 3–5
55118 Mainz