Was kulturelle Gegenstände in unserer heutigen Ökonomie mit Wert versieht, ist nicht mehr einfach nur das Ergebnis einer kontinuierlichen Produktion möglichst neuer Objekte. Wie die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre es beobachten, generiert sich Mehrwert vielmehr durch den Prozess des „enrichissement“ (z. dt. Bereicherung), der Dinge mit Erzählungen und Referenzen auflädt. Diese wertsteigernde Logik, die sich vor allem über den die Zeit transponierenden Verweis historischer Bezüge dekliniert, übertragt sich beinahe wie von selbst auf das Wesen der Kunst. In ihr wird der Praxis einer sich stetig entfaltenden Ergänzung, in der sich Narrative auf bereits vorhandenes einschleichen, zentrale Stellung gegeben. Das Objekt, das von diesen Verweisen beinahe gespenstisch heimgesucht wird, entfaltet eine Dynamik, die es zum Behälter jener Additionen macht, die lustvoll herbeigesehnt werden. Julian-Jakob Kneers Arbeit frottage (2019), die zuletzt im Projektraum Limbo zu sehen war, operiert auf einer Ebene, die das morbide Wesen des „enrichissement“ zum formgebenden Prinzip erklärt und dabei zeigt, wie vexiert ihr Verhältnis zum Fetisch um Werte und Symbole ist.
Solitär steht frottage inmitten der Berliner Stadtlandschaft in einem der Glaskästen, die den Kurfürstendamm säumen und von anliegenden Geschäften als Werbeplattform genutzt, ausstaffiert oder plakatiert werden. Den Körper der Skulptur aus dumpf leuchtendem Holz hat Kneer mit einem Ornament eingeschrieben, das über Voluten, Muster und Blätter das Bild einer freien Form zeichnet – unattached und souverän. Ein dezenter aber mit höflich schwingenden Kassetten geschmückter Sockel aus Blei setzt den einleitenden Rahmen, dessen Kraft zur Abgrenzung vor allem die Dekoration an sich ins Zentrum rückt. Die frei kombinierten Verzierungen lösen sich durch ihre Geschichtsklitterung von dezidierten Zuordnungen los, die frottage (z. dt. Abrieb) zu einem historischen Relikt, Zeitzeugen oder Archivgegenstand machen würden. Vielmehr wird hier die Hülle zum Inhalt und das geschnitzte Holz zum Dokument für die symbolische Matrix, die inmitten von Erotik und Dekadenz, Zerfall und Reichtum die Zwischenräume eröffnet, in denen unser Begehren entsteht.
Die moralische Verwerfung, die mit dem Ornament in der Moderne unterstellt wurde, dient Kneer als Freiraum, in dem Vergangenes und Ausgestoßenes zum Werkzeug wird.1 Die Dekadenz der überschwänglichen Formen erscheint als memento mori aus der Vergangenheit und zeugt von der gleichen morbiden Faszination, die die Schwarze Romantik prägte: ruinöse und bruchteilartige Erinnerungen werden zu gespenstischen Erscheinungen. Die Ruinen altrömischer Tempel, die der deutschen Spätromantik als Schauplatz dienten, wähnten sich nicht nur als Andenken an ein untergegangenes Imperium, sondern erfüllten auch die Rolle eines radical chics im Bewusstsein einer immer währenden Ausrichtung von gesellschaftlichen Systemen auf ihren unweigerlichen Niedergang – ein Gedanke, der in der vermeintlichen Unzerstörbarkeit des kapitalistischen Geistes nicht mehr möglich erscheint.
frottage schließt somit unmittelbar an Kneers vorangegangene Arbeit ornament sublime (2019) an: hüfthohe, gedrechselte Holzstehlen, deren geschwungene Oberflächen mit Nieten, Spikes verziert, ebenfalls auf eine Handwerk basierte Kolonialisierung häuslicher Räume andeutet. Abermals ist es der Hang zur Finesse und Ausschmückung, der eine dekadente Form der Macht ausstrahlt – old money, dessen klar erkennbare und zentralisierte Form der Repräsentation in Zeiten von dezentralisierten Ökonomien und irrationalen Wertschöpfungsketten beinahe romantisch daherkommt. In den Sinn tritt hier auch die surreale Architekturperformance der Rekonstruktion des Berliner Schlosses, zu deren vollständigen Umsetzung nur noch 9 Millionen Euro fehlen. Ein Wiederaufbau, der nur deshalb ohne größere Implikationen durchgeführt werden kann, da sich die Symbole von preussischer Herrschaft und Macht inzwischen abgenutzt und entleert haben. In der exakten Wiedererrichtung des Regierungsgebäudes wurde selbst das Kaiserzimmer rekonstruiert, wodurch sich im Nexus eines materiellen Sprechakts eigentlich das Anrecht eines Herrschers über Preußen erst konstituiert. Diese historische Unvorsichtigkeit sollte jedoch in keiner Weise Grund zur Beunruhigung sein, sind doch inzwischen gesellschaftliche Kontroll- und Machtmechanismen derart fluide und internalisiert, dass das Zimmer unbesetzt belassen werden kann und dabei zur treffenden Metapher für gegenwärtige Strukturen wird.
In einer frottage begleitenden Performance, die Kneer gemeinsam mit Autorin Ella Plevin erarbeitete und einmalig von Berliner Model und Grande Dame Jutta von Brunkau aufgeführt worden ist, gerierte der Eröffnungsabend zu einer Chiffre für rituelle Theatralisierung, die durch das Entzünden einer Kerze eingeläutet wurde. Mit ihrer perfekten Volute der Ornamentik von frottage nicht unähnlich, war diese jedoch ein direkter Wachsabguss unter Leihgabe einer Silikonform der Stuckateure des Berliner Schlosses. Dem Vokabular dieser verbrecherischen Formen sind verschiedene Zeitlichkeiten eingeschrieben, in denen romantische Sehnsucht und eine totgeglaubte Ästhetik aufeinander treffen. Über diese im Begehren verankerte Verschränkung von Erotik und Morbidität wird deutlich, wie Dekadenz als werterzeugende Form der Lust arbeitet.
Das kommerzielle Ausstellungsdisplay von Limbo auf Berlins bekanntester Einkaufsstraße dient als visuelle Lupe, die die materielle Erscheinung des Holzes von frottage scheinbar potenziert und zu einem dekadent überschwänglichen Genuss der Formen und Haptik anregt. Sie lässt die heimgesuchte Romantik des Ornaments in den Fetisch gegenwärtiger Marktrelationen hinübergleiten. Unter alle dem schwelt dieser „libidinöse Konflikt“ – wie der Künstler es selbst zusammenfasst –der die morbide Attraktivität dieser Formen in unserer jetzigen Zeit ausmacht.
Zur Eröffnung der Ausstellung fand eine von Julian-Jakob Kneer und Ella Plevin entwickelte Performance als Teil des Project Space Festival 2019 statt (Performerin: Jutta von Brunkau).
[1] Vgl. Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, 1929
Julian-Jakob Kneer – frottage 29. Juni – 18. August 2019
Limbo Kurfürstendamm Cicerostr. 1 10709 Berlin
Limbo ist ein kuratorisches Projekt von Viktor Hömpler.
Julian-Jakob Kneer ist Künstler. Er lebt und arbeitet in Berlin. Unter anderem hatte er Einzelausstellungen bei Lucas Hirsch, Düsseldorf (ornament sublime, 2019), ROOM E-10 27 @ Center, Berlin (wicked games, 2018), BIKINI, Basel (Jugend ist Trunkenheit ohne Wein, 2018), 1.1, Basel (sub rosa, 2018) und nahm an Gruppenausstellung bei Fetisch-Hof, Berlin (L’amour, 2019), Horse & Pony, Berlin (Cloak of Mercy, 2019), PS120, Berlin (In-visible Realness, 2019), fffriedrich, Frankfurt am Main (Gentle Heterodoxy. Social Body and its Enchantments, 2018) und A night in Alexander, online (2018) teil.