How to Become a Bad Reader
Badischer Kunstverein, Karlsruhe
06–01–2021
by Benedikt Johannes Seerieder

‘Bad Readings’, 2020, exhibition view, Badischer Kunstverein, Karlsruhe. Courtesy: Badischer Kunstverein, Karlsruhe; photograph: Lisa Bergmann

Der monolithische Ausstellungstext ist das Problem. Glatt, unangreifbar und auf ewig gesetzt, zwingt er den Ausstellungsbesucher*innen seine Lesart auf. Die zugehörige Ausstellung setzt das Problem fort. Für den*die körperlose*n Betrachter*in eingerichtet, löst sie Verspannung, Unverständnis und falsche Ehrfurcht aus. Die Szenografin Diane Hillebrand hat die Bad Reading Group (Jandra Böttger, Elio J Carranza, Severin Geißler, Diane Hillebrand, Bruno Jacoby, Cécile Kobel, Mathias Lempart, Arootin Mirzakhani, Esther Poppe, Johanna Schäfer, Tatjana Stürmer und Yana Tsegay) versammelt, um dem Problem des Ausstellungstexts und der Lektüreerfahrung des Ausstellungsbesuchs nachzuspüren. In ‘Bad Readings’ nehmen die Erkundungen der Gruppe die Form einer Ausstellung an, die sich auf Jeremiah Days vergangene Einzelpräsentation ‘If It’s For The People, It Needs To Be Beautiful, She Said’ im Badischen Kunstverein in Karlsruhe bezieht.

Die Methode des Bad Reading entlehnt die Gruppe aus den Literaturwissenschaften. Bad Reading wurde von Tyler Bradway als affektiver, queerer und nicht-akademischer Zugang zu Texten konzipiert, der sich gegen den beschränkten Zirkel einer gebildeteren und häufig weiß und cis-heterosexuellen, sowie männlich vorgestellten Leser*innenschaft richtet:
„Die Normen des Lesens (…) begrenzen die legitimen Modi der Interpretation – sie etablieren die Lesepraxen, die letztendlich als kritisch zählen werden, und die Konditionen, unter denen beurteilt wird. Diese Normen (…) nehmen vorweg, was ein Text stilistisch oder formell vorweisen muss, um „lesbar“ zu sein. Noch entschiedener diktieren sie die Art und Weise, wie sich zu einem Text affektiv und körperlich in Beziehung gesetzt werden sollte: ob es akzeptabel ist, sich in Träumerei zu verlieren, sich leidenschaftlich und unvernünftig zu identifizieren, sozusagen mit hochgelegenen Füßen zu lesen. (…) Eine unausgesprochene soziale Vorstellung verbirgt sich hinter unseren gefühlten Beziehungen zu Texten, die die Zugehörigkeiten der Körper der Lesenden, der textuellen Körper, bis hin zum Körper des Politischen an sich aufzeigt. (…) Wenn wir gegen diese Regeln verstoßen, schlechte Leser*innen werden, werden wir als „queer“, „stupid“ oder „ill-mannered“ bezeichnet. Solche Augenblicke sind nicht bloß individuelle Fehllesungen, sondern Augenblicke der sozialen Grenzüberschreitung. Irgendwann war jede*r schon einmal ein*e schleche*r Leser*in.“
Tyler Bradway in Queer Experimental Literature: The Affective Politics of Bad Reading (2017)

‘Bad Readings’, 2020, exhibition view, Badischer Kunstverein, Karlsruhe. Courtesy: Badischer Kunstverein, Karlsruhe; photograph: Lisa Bergmann

An einer der beiden Stellen im Raum sitzt ansonsten so häufig das kuratorische Statement zur Ausstellung, also jener Text, um den es der Bad Reading Group insbesondere geht. Diese Form gibt es hier auch, doch auf eine extrem entfaltete Weise: Seine geschlossene Form ist aufgebrochen, Einschübe und Kommentare haben den Monolithen zersetzt. Hier vernimmt die*der Austellungsbesucher*in die vielen Stimmen, die Anteil an der Formierung des Texts haben. Das ansonsten glatte Unisono zerfasert hier in kleinteilige Komplexitäten, die das Ringen um den Text erst sichtbar machen. An ihre Stelle tritt eine transparent dargestellte Multitude, die sich am Text abarbeitet: Politische Einwände, unbegründete Forderungen und persönliche Überlegungen wechseln sich ab mit Abschweifungen und Situationsbeschreibungen. Auf diese Weise verschwindet die opake Geschlossenheit und forcierte Eindeutigkeit des kuratorischen Statements und sein Konstruktionscharakter, seine Bedingungen sowie die sozialen Dimensionen des Textes tritt hervor.

‘Bad Readings’, 2020, exhibition view, Badischer Kunstverein, Karlsruhe. Courtesy: Badischer Kunstverein, Karlsruhe; photograph: Lisa Bergmann

Auch die mediale und materielle Bedingtheit eines solchen Wandtextes erfährt Kommentierung. So sind Passagen in einer neugestalteten Typografie gesetzt, die Standard-Schriftarten wie Arial und Times New Roman vermengt. Zudem sind Einschübe in einer neuartigen, wuchtigen Typografie gesetzt. Hier wirken die Punzen (nichtdruckende Innenflächen eines Buchstabens) wie verstopft – gerade so, als wäre dieser stets kleinteilige Bereich der Letter nicht an der Abziehfolie haften geblieben und hätte sich an die Wand übertragen.
Der Wandtext wiederholt sich inhaltlich in einem zweiten Format, das noch unverstellter den Ablauf der Diskussion darstellt. An Pfeilern des Raums pinnen lange Prints, die das vertraute Google-Docs-Layout in die Ausstellung übertragen. So zeigt sich die Diskussion der Bad Reading Group auch als dezentraler, digitaler Arbeitsprozess, der über die Kommentar- und Korrekturfunktion gängiger Online-Textverarbeitungsprogramme stattfindet. Die Ausdrucke bilden gleichsam das Gegenüber zu dem großen, hölzernen Tisch, und damit dem physischen Ort des Diskurses, der als zentrales Exponat die Ausstellung prägt.
In seiner entfalteten Vielstimmigkeit ist der Text sehr lang und überbordend geworden. So setzt beim Besuch der Ausstellung bald Ermüdung ein, denn es ist natürlich anstrengend, den wechselvollen Passagen durch kleinteilige Diskussionen zu folgen. Dadurch aber wiederholt diese Form auf performative Weise das Problem, welches die Bad Reading Group angeht – nämlich der transparenten Offenheit vor den komprimierten Aussagen des gewöhnlichen Wandtextes den Vorzug zu geben.

‘Bad Readings’, 2020, exhibition view, Badischer Kunstverein, Karlsruhe. Courtesy: Badischer Kunstverein, Karlsruhe; photograph: Lisa Bergmann

Nun mag man sich vielleicht auf eine der Couchen niederlassen, um das Lesen im Stehen durch Schauen und Hören im Sitzen auszugleichen. Zwei de Sede Terrazza Sitzgelegenheiten sind wie zur Erinnerung auch an den Körper in der Ausstellung zu denken, in die Ecken des Raumes geschoben. Sie sind nicht als klassische Zwei- oder Dreisitzer gedacht, sondern bilden eine frei kombinierbare Sitzlandschaft. Der Schweizer Designer, Ubald Klug, konzipierte die ab 1973 vertriebenen Möbel mit dem Gedanken, das häusliche Wohnen und die damit verbundenen Körperkonfigurationen zu reformieren. Legt sich die*der Ausstellungsbesucher*in auf die Couch, wird eine Sound-Arbeit von Esther Poppe vernehmbar. Aus Lautsprechern hinter der Sitzgelegenheit erklingen längere Sätze oder Wortketten. Sie bleiben akustisch und auch ihrem Sinn nach abstrakt. Aus dem opaken Wortteppich dringen indes einschlägige Buzz Words des kontemporären Ausstellungsdiskurses durch: „Performativity …isomorph …queer…Marginalisierung…collectivness…“.
Der Blick geht durch den Raum und verharrt vor den eigenen Füßen. Die Sofas stehen nicht direkt auf dem Boden, sondern auf rechteckigen, rohen Sperrholzplatten. Im Badischen Kunstverein erinnern diese Bretter an die Ausstellung If It’s For The People, It Needs To Be Beautiful, She Said, einer Einzelausstellung des Künstlers Jeremiah Day, die bis Ende August 2020 gezeigt wurde. Sie geben damit einen Hinweis, dass sich die kritische Beschäftigung mit der Ausstellung und ihren Texten an dem konkreten Beispiel der Re-Lektüre dieser vorangegangenen Präsentation abhandelt.
Nähert man sich nun dem schon erwähnten Tisch (Bad Reading Table von Diane Hillebrand & Tatjana Stürmer, 2020), finden sich hier weitere Hinweise auf die Auseinandersetzung mit der „gelesenen“ Ausstellung von Jeremiah Day. Der Tisch bildet ungefähr einen offenen Kreis und erinnert so einerseits an die bekannte Anordnung für Konferenzen, andererseits ist er mit ausschweifenden Ornamenten versehen. Manche Stellen zieren spitze Zacken, andere sanfte Schwünge. So lädt er dazu ein, sich nur an bestimmten Stellen einen Platz zu suchen und verweist dadurch auf die körperliche Bedingtheit der Diskussion. Im Sommer 2020 kam dem funktionell gewendeten Ornament die Bestimmung zu, den 1,5 Meter physischen Abstand zwischen den Teilnehmer*innen der Bad Reading Group zu gewährleisten.

‘Bad Readings’, 2020, exhibition view, Badischer Kunstverein, Karlsruhe. Courtesy: Badischer Kunstverein, Karlsruhe; photograph: Lisa Bergmann

‘Bad Readings’, 2020, exhibition view, Badischer Kunstverein, Karlsruhe. Courtesy: Badischer Kunstverein, Karlsruhe; photograph: Lisa Bergmann

Die auf dem Tisch angeordneten Exponate und Dokumente wie Rechnungen, ein Puzzle, Foto-Postkarten oder eine Pfauenfeder verkörpern allesamt verschiedene Beziehungsweisen zu Days Ausstellung oder den grundsätzlichen Fragen nach visuellen Präsentationen und Text. So zeigen die Fotografien auf den Postkarten die Mitglieder der Bad Reading Group gewissermaßen in Aktion, also beim „Lesen“ der Ausstellung. Die Teilnehmer*innen stehen vor Texten, liegen am Boden, lagern in Gruppen, oder sitzen auch um den Tisch, also um jenen, auf welchen nun, in der gegenwärtigen Ausstellung, wiederum die Fotos zu sehen sind. Auf der Rückseite der Postkarten sind kleine, persönliche Grüße an Jeremiah Day formuliert, die Einblicke in die persönliche Annäherung an seine Ausstellung geben. Jenseits dieser kleinen Momente verschwindet der Bezug zur Jeremiah-Day-Ausstellung indes schnell wieder und es bleibt eine Herausforderung nachzuvollziehen, wie die konkreten Formen der “gelesenen Ausstellung” die Erkenntnisse und die Gestalt der gegenwärtigen Ausstellung im Spezifischen prägen.
Über den Raum verteilt, verkörpern zahlreiche weitere Exponate die unterschiedlichen Perspektive der Erfahrungen der Bad Reading Group. In einem Winkel des Raumes finden sich etwa lasergravierte Fliesen, die aufwendig gearbeitet und präzise gestaltet Zitate von Denker*innen wie Judith Butler, Édouard Glissant, Jacques Derrida, Donna Haraway oder Tyler Bradway zu den Themenkomplexen Übersetzung und Übertragung, Kodieren und Dekodieren sowie Körper, Raum und Text darstellen. Der Beitrag schafft eine räumlich-sinnliche Inszenierung für die textuellen Gehalte und aktualisiert dadurch die thematisierte Übertragung und Versinnlichung, die die Autor*innen preisen. Theoriearbeit und gestalterische Praxis finden in diesem Exponat in fruchtvoller, aber selbstgenügsamer Relation zusammen.
Mit ‘Bad Readings’ wird erfahrbar, worin das Unbehagen der Ausstellungslektüre liegen kann, was eine Lese- und Ausstellungserfahrung neben der klassischen Lektüre noch alles sein könnte und wo aktuelle Kämpfe geführt werden und geführt werden müssen. Die Ausstellung setzt ein vielfältiges Plädoyer für ein Lesen als eine körperliche Praxis, für ein entgrenztes Lesen, für produktives Scheitern an Texten und Ausstellungen – und für ein Lesen, das Kraft in Misslektüren und baumelnden Beinen findet.
‘Bad Readings’
23. Oktober – 29. November 2020

artists
Jandra Böttger, Elio J Carranza, Severin Geißler, Diane Hillebrand, Bruno Jacoby, Cécile Kobel, Mathias Lempart, Arootin Mirzakhani, Esther Poppe, Johanna Schäfer, Tatjana Stürmer und Yana Tsegay

Badischer Kunstverein
Waldstraße 3
76133 Karlsruhe