An den schmalen Eingangsbereich schließt ein größerer Raum an, der sich unerwartet weit nach hinten streckt. Das Volumen ist mit einer eng gestellten Sammlung an Mobiliar, Kunst und Kuriosa gefüllt. Material und Form geben Choosing to trust (2024), als abweichenden Körper zu erkennen; inmitten der Gebrauchtwaren behauptet der künstlerische Beitrag von Nicholas Stewens seinen Platz. Das aus Holz und Glas konstruierte Koordinatensystem fungiert als Verbindungs- ebenso wie Trennstück: Es vereinigt und unterbricht die physischen Räume und biografischen Kontexte, aus denen die versammelten Objekte, die sich diffus in den Glasscheiben spiegeln und beim Umgehen des Werkes wie Erinnerungen vorbeiziehen, einst stammten. Konträr zur reizreichen Umgebung weist die Arbeit einen strengen formalen Ausdruck auf, ohne sich als ordnende oder wertende Instanz über das augenscheinliche Durcheinander zu erheben. Stattdessen will sie das subversive Potenzial im Orientierungslossein hervorheben.
Von 2022 bis 2023 organisierte etta Ausstellungen in festen Räumlichkeiten in der Düsseldorfer Innenstadt. Da diese aus finanziellen Gründen aufgegeben werden mussten, wird der Projektraum nun in neuer Gestalt fortgesetzt, brachte doch der erzwungene Tapetenwechsel ein Umdenken und einen frischen Blick auf vorhandene Strukturen mit sich: Die Suche nach möglichen Ausstellungsstätten führte die Kuratorinnen Ruth Magers und Anna Marckwald quer durch die Stadt und schließlich zu den vier Orten, die nun im Rahmen von BOOM TOWN bespielt werden. Konzeptueller Ausgangspunkt der Ausstellung war, wie der Titel in Sprache fasst, das Bild einer sich wandelnden Stadt. „Boomtown“ ist eine aus dem Englischen übernommene Bezeichnung für eine schnell entstehende oder wachsende Stadt, deren wirtschaftlich oder politisch bedingte Veränderung sich in demographischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen widerspiegelt. Der Typus einer durchgeplanten Stadt wird mit dem Motiv des Labyrinths überlagert. Während moderner Städtebau räumliche und zeitliche Abstände technisch zu verkürzen sucht, scheint eine labyrinthische Konstruktion diese auszudehnen und zugleich aufzuheben. Momente der Orientierungslosigkeit und Narrative des zielführenden Irrwegs werden durch dieses bildliche Verweben aufwertend herausgestrichen, während ständige Optimierung einem suchenden, ja spielerischen Prozess gegenübergestellt wird.
Von dieser Geste der Überlagerung ist das Ausstellungsprojekt auch auf materieller Ebene geprägt: Die künstlerischen Arbeiten werden in vorhandene Infrastrukturen hineingesetzt, akzeptieren die jeweiligen Gegebenheiten und reagieren vermittelnd oder verstärkend auf deren inhärente Logiken. Daraus ergibt sich ein unsichtbares Wegsystem aus vier Knotenpunkten, welche wahlweise als zusammenhängendes Ganzes erfahren oder als eigenständige Teile verstanden und jeweils für sich besucht werden können – entsprechend fein oder dicht wird das Netz gesponnen. Neben der anfangs beschriebenen Arbeit bei Jahan Antik in Düsseldorf-Flingern gibt es zwei weitere Präsentationen in angrenzenden Vierteln: In einem Zimmer des Hotel Ufer wird eine kollaborative Arbeit von Jonida Laçi, Marie Yaël Fidesser und Florian Hofer gezeigt, im Antiquariat Kamas ist ein Werk von Sam Cottington zu sehen. Eine Art Angelpunkt stellt eine Gruppenausstellung mit Arbeiten von Clémentine Adou, Ethan Assouline, Valérian Goalec, Julia Jaksch, Mary Bom Kahama, Alexander Stewart, Franz Erhard Walther und Paloma Varga Weisz dar, die im ehemaligen Verkaufsraum der Krefelder Firma Baumann Stempel in Stadtmitte zu sehen ist.
Den Auftakt bildet ein Werk von Julia Jaksch: Eingebettet in den Schaukästen des früheren Ladenlokals steht A ghost moving through the walls (2024) in direktem Kontakt zur Straße, tritt in Dialog mit dem umgebenden Stadtgefüge und dient als Ein- oder Überleitung zur Ausstellung im Innenraum. Dieser ist durch Vorhänge vom Ladenfenster getrennt und abgedunkelt, in Jakschs Arbeit sind Innen und Außen dahingegen nicht überall voneinander zu trennen. Vielmehr handelt es sich bei der collageartig zusammengesetzten Skulptur um verschiedene Volumina, die ineinander übergehen, aber äußerst unterschiedlich gestaltet sind. Die mit unzähligen kleinen Objekten, Details und Referenzen versehenen Räume des Modellhauses zehren aus einer reichen Kollektion an erlebten oder erdachten Situationen. Dadurch werden die verschiedenen Bedeutungsebenen physischer und mentaler Räume sowie die materiellen Verkörperungen von Erinnerungen und Vorstellungen angesprochen. Im Zentrum lässt sich ein Element aus dem Ausstellungsraum selbst wiederfinden: Mit der verkleinerten Abbildung der charakteristischen Wendeltreppe sowie den in der Arbeit integrierten Verweisen auf die historische Entwicklung menschengemachter Miniaturen beinhaltet diese nicht zuletzt ein Nachdenken über die spezifische Typologie und den eigenen Kontext.
Ähnliche Überlegungen sind auch für Valérian Goalec von Bedeutung: Um die Entwicklung „neuer” Formen zu hinterfragen, modifiziert der Künstler gewöhnliche Objekte und räumliche Komponenten und untersucht alltägliche und ritualisierte Verhältnisse zwischen Körpern und Dingen. So entstammt der in BOOM TOWN präsentierte Fotodruck einer Reihe von 99 Screenshots digital übertragener Vorträge oder Gespräche, in welchen jedoch anstelle der sprechenden Personen bloß Details des jeweiligen Setups zu erkennen sind. Daneben zeigt Goalec die auf einer Art Anweisung basierende Arbeit Act 14 (2023). Im Kern besteht das Werk darin, dass der Künstler über Second-Hand-Plattformen verfügbare Gegenstände erwirbt und diese dann der ursprünglichen Anzeige entsprechend im Ausstellungsraum arrangiert. Hier nimmt das umgesetzte Werk die Form von losen Buchstaben aus Edelstahl an, die ihre frühere Funktion noch in sich tragen. Da sich der Namen des einst beschilderten Unternehmens nicht mehr entziffern lässt, formuliert sich in den Spuren der Firma Baumann, die unter anderem Stempel und Schilder herstellt, eine parallele Erzählung.
Auch die Arbeiten von Clémentine Adou nehmen oft in vorhandenen Materialien ihren Ursprung. Die Black screens Dual (2024), sind Teil einer im vergangenen Jahr begonnenen Serie. Sie bestehen aus gebrauchten Kartonagen von Flachbildfernsehern, die wiederholt mit schwarzem Glanzlack bestrichen wurden. Obwohl die dunklen, scheinbar massiven Objekte wie Barrieren wirken, funktionieren sie trotz ihrer Geschlossenheit auch als Projektionsebenen. In den glänzenden Oberflächen werden Umgebung und Besucher*innen schemenhaft reflektiert, zugleich schimmern stellenweise Markennamen oder Abbildungen durch. So bleibt die materielle Grundlage der Arbeiten nachvollziehbar, während die kommerzielle Janusköpfigkeit zeitgenössischer Kunst wie beiläufig kommentiert wird. Auf und hinter der vorhandenen Ladentheke installiert, nehmen die Black screens Bezug auf die frühere Nutzung der Räume sowie die Produkte und Dienstleistungen, die einst über diesem Verkaufstisch verhandelt wurden.
Den gegebenen Rahmen nutzt in besonderem Maße auch Paloma Varga Weisz. Mit Cabinet (2018), knüpft die Künstlerin an ihre fortlaufende Untersuchung des Zusammenwirkens von Werk und Display sowie frühere Beschäftigungen mit dem Format des Kabinetts an. Hier arrangiert sie figurative und fantastische Skulpturen wechselnder Größe und unterschiedlicher Materialien von Holz bis Bronze in den offenen Fächern des Wandschranks und verwandelt diesen in eine Wunderkammer. Manche Figuren bilden spezifische Personen oder Tiere aus dem Umfeld der Künstlerin ab, einige entstammen ihrer Imagination, andere nehmen Bezug auf religiöse oder historischen Erzählungen. Die Anordnung innerhalb der Kästen folgt einem eigenen rhythmischen Prinzip, das sowohl den einzelnen Skulpturen und ihren Entstehungskontexten Raum lässt, als auch den dazwischen entstehenden Abständen und Beziehungen Bedeutung beimisst. Die archivarische Sammlung aus Erinnerung und Traum, Abbildung und Übersetzung – Ordnung und Unordnung – wird durch die Rahmung umso pointierter.
Ebenso deutlich wird die kontextuelle Bedingtheit von Kunst im Antiquariat Kamas vor Augen geführt. Sam Cottington, der in seiner Praxis auf verschiedene Medien, wie Malerei, Skulptur und Video zugreift, versteht Schreiben als Methode und Text als Material. In der im Rahmen von BOOM TOWN präsentierten Arbeit wird diese Verbindung unmittelbar erkennbar. Wie andere Werke der Ausstellung interveniert Writers Body (2024), förmlich in der vorgefundenen Infrastruktur. Hier erscheint die Wahl des Ortes besonders passend und produktiv: Quer über das große Schaufenster des Antiquariats prangt in kräftig roten, serifenlosen Buchstaben „Bethany Cottington“. Ähnlich der Arbeit von Jaksch kommuniziert auch Cottingtons Writers Body in besonderem Maße mit der städtischen Umgebung, da die Fensterfront die Schwelle zwischen Innen- und Außenraum sowie den Abschluss einer Sichtachse bildet. Den Blick auf die vollen Bücherregale des Ladenlokals faktisch überschreibend, impliziert der Schriftzug zunächst, dass es sich um den Namen einer Schriftstellerin handeln könnte; wie der Nachname andeutet, ist Bethany Cottington jedoch eine Cousine des Künstlers. Dies lässt zum Einen an die Geschichte der von patriarchalen Strukturen geprägten Namensgebung denken und zum Anderen an die Bedeutsamkeit von Namen als Marke, Symbol oder Behältnis. Durch die Anführungszeichen wird sowohl das Dekontextualisieren an sich unterstrichen als auch das dadurch ermöglichte Paraphrasieren des Namens und des Verhältnisses zwischen Sam und Bethany Cottington. Im Zusammenhang des Antiquariats platziert, kratzt die schriftbasierte Arbeit an den Grenzen zwischen biografischen und fiktionalen Narrativen, zwischen öffentlichem und privatem Raum.
Bilder einer Boomtown, Motive eines Labyrinths, Gegenmodelle zu konventionellen Präsentationsräumen, Wechselwirkungen zwischen Werk und Kontext sowie Brücken zu Geschichte, Literatur und Design ergeben ein facetten- und thesenreiches Ausstellungskonzept. Die verstreuten Orte und unzähligen Bezüge lassen dieses stellenweise an Kohärenz einbüßen. So ist auch mit dem Versuch, das Projekt als Ganzes zu beschreiben und dabei dem Ausstellungskonzept sowie den einzelnen Werken gerecht zu werden, das Risiko verbunden, zwischen den Stationen vom Weg abzukommen. Da jedoch nicht nur die Gruppenpräsentation, sondern auch die anderen Beiträge ausgeprägte Autonomie aufweisen, wird die Betrachtung der Werke durch den primär konzeptuell geformten Rahmen nicht beeinträchtigt. Insofern birgt ebendieses Risiko, den Überblick – die Orientierung – zu verlieren, auch die Gelegenheit, einzelne Details zu beachten, unerwartete Anknüpfungspunkte wahrzunehmen und weniger offensichtliche Verbindungen herzustellen.
BOOM TOWN betrachtet die Stadt als Möglichkeitsraum und baut auf existierenden Strukturen auf. Innerhalb des vieldimensionalen urbanen Netzes, welches von ständiger Verdichtung, Verschiebung und Vergrößerung geprägt ist, untersucht die Ausstellung das Potenzial von Desorientierung und hinterfragt die Genese von Form und Neuheit. Es geht zugleich um die konkreten Orte, die jeweils für sich eine Geschichte erzählen, wie um eine Vielzahl anderer möglicher Begegnungsstätten, zukünftiger Schauplätze und potenzieller Etappenziele. Die Ausstellung zeigt eine Zusammenstellung von Arbeiten, die Vorhandenes auf unterschiedliche Weise kommentieren, komplementieren oder kontrastieren. Nicht zuletzt ist es eine sehr persönliche Auswahl, die diverse Verbindungslinien zu Knotenpunkten in den Biografien der Initiatorinnen zieht und an etablierte Kontakte und zurückgelegte Wege anknüpft. Ebenso wie die einzelnen Werke nimmt die Ausstellung den Kontext als konstitutives und deutungsprägendes Element wahr, wodurch verschiedene Zeitschichten vernetzt, Erzählungen aktiviert und – an bestehenden Orten – neue Räume eröffnet werden.
BOOM TOWN
20/07 – 17/08/2024
Mit Clémentine Adou, Ethan Assouline, Sam Cottington, Marie Yaël Fidesser, Valérian Goalec, Florian Hofer, Julia Jaksch, Mary Bom Kahama, Jonida Laçi, Alexander Stewart, Nicholas Stewens, Franz Erhard Walther, und Paloma Varga Weisz
Kuratiert von Ruth Magers und Anna Marckwald
etta
Bastionstraße 5
40213 Düsseldorf