„Orbs und Souvenirs“
Das Flüstern und Flimmern eines Hauses im Schwarzwald
Black Forest Institute of Art
06–10–2022
by Diana Thun

Orbs und Souvenirs im BIA, Ausstellungsansicht (Salon), 2022, Foto: E. Sommer

Häuser erzählen Geschichten. Das trifft insbesondere auf den „Waldfrieden“ zu: ein Haus in Lenzkirch im Schwarzwald, das vor drei Generationen als Ferienpension diente und nun Sitz des Black Forest Institute of Art (BIA) ist. Aktuell fungiert der Ort zudem als zentraler Schauplatz für die sommerlange Veranstaltung Orbs und Souvenirs, einem von Magdalena Stöger und Leon Hösl kuratierten Residency-Programm mit an- und abschließender Gruppenausstellung. Teilnehmende Residents sind Stefan Burger, Sophie Jung, Sarah Lehnerer, das Künstler*innen-Duo nabbteeri und Julia Rublow.

 

Der Name Melitta wird im Waldfrieden oft ausgesprochen. Melitta Schnarrenberger (geb. Auwärter), Großmutter von Stefan Hösl, der das BIA 2017 gemeinsam mit Andrea Mihaljevic gründete, betrieb die Ferienpension ab 1938 – zunächst mit ihrem Ehemann, dem Maler der Neuen Sachlichkeit Wilhelm Schnarrenberger, dann alleine, nachdem sich das Paar getrennt hatte und Schnarrenberger nach Kriegsende zurück nach Karlsruhe berufen worden war. Neben dem Pensionsbetrieb und einer regen kommunalpolitischen Tätigkeit als erste weibliche Gemeinderätin im Hochschwarzwald schuf Melitta ein profundes malerisches Werk. Ihre Gemälde säumen das Haus, besetzen Ecken und füllen Regale, sie sind eindringliche und nicht wegzudenkende Memoranda. Oft blitzt die Signatur der Malerin am unteren Bildrand hervor. Große, meist schwarze Buchstaben, der Vorname reicht: Melitta.

 

Die Auseinandersetzung mit deren Werk, dem Haus und seiner Umgebung stellt einen der Schwerpunkte des BIA dar und ist ein Kernelement seines heurigen Programms Orbs und Souvenirs. „Orbs“: Das sind die ringförmigen Lichtspuren zufallsbedingter Staub- und Störpartikel auf einer Fotografie, die mit freiem Auge zum Aufnahmezeitpunkt meist unsichtbar sind. Sie bilden die Fuge zwischen der im Bild eingefangenen Welt und den Umständen der Bildproduktion. Auch „Souvenirs“ dienen gewissermaßen einer Spurensicherung: Im besten Fall sind sie Fundstücke, die Erinnerungen zum Leben erwecken und dabei ihr Eigenes hinzufügen. Um dieses Tauziehen zwischen Bewahren und Erneuern ist das BIA auch im Allgemeinen bemüht. Jeglicher Museumscharakter wäre fehl am Platz, so die Kurator*innen Magdalena Stöger und Leon Hösl, vielmehr müsse das Haus mitsamt seinen Erzählungen und Schätzen in steter Bewegung bleiben.

Orbs und Souvenirs im BIA, Ausstellungsansicht (Salon), 2022, Foto: E. Sommer

Wir machen einen kleinen Rundgang durch die Ausstellung. Tritt man durch die Eingangstür und blickt nach rechts, fällt zunächst ein großer Flügel auf. Leise im Hintergrund kann man die Soundinstallation von Julia Rublow vernehmen, die das Flügelstimmen bei einer von ihr gestalteten Veranstaltung im August wiedergibt. Man sieht aber auch Arbeiten früheren Entstehungsdatums an den Wänden hängen: Werke von Germaine Hoffmann, Collage-Künstlerin und Großmutter der Residency-Teilnehmerin Sophie Jung, und von Melitta und Wilhelm Schnarrenberger fügen den Arbeiten der heurigen Residents wie auch den sprechenden Gegenständen im BIA-Haus ihre eigene Erzählstimme hinzu. In diesem Dreigespann aus den Werken aus der Zeit Melittas, der künstlerischen Auseinandersetzung der Residency-Künstler*innen und dem Geflüster des Hauses selbst spinnt sich die Ausstellung weiter fort. Überall findet man Querverweise und Vorboten, die ein zeitlich und räumlich weit verzweigtes und an vielen Stellen verwobenes Netz aufspannen. Im nächsten Raum sieht man etwa diverse Materialsplitter und Scherben auf einem Tisch verteilt. Im Verbund mit einem Stillleben von Wilhelm Schnarrenberger in der gegenüberliegenden Raumecke dienen sie als Relikte einer Veranstaltung von nabbteeri, bei der das aus Finnland stammende Künstler*innen-Duo (Janne Nabb und Maria Teeri) den Text „Solid Objects“ von Virginia Woolf las und dazu ihre spekulativen Mineralien präsentierte. Das erwähnte Stillleben zeigt diverse Glasfläschchen und Pinsel und erinnert damit nicht nur an die Besonderheit der ehemaligen Ferienpension Waldfrieden, Hort vielfältiger Glas- und Silberwaren und Malatelier zugleich. Es reimt sich auch mit dem typologischen Interesse an Löffeln, Gläsern und Lustern, das Stefan Burger während seines Aufenthaltes entfaltete, und dem ganz konkreten Einsatz der Gläser für Cocktails von Julia Rublow (siehe unten).  

Sophie Jung, Komm Biber, geh!, 2022, Foto: E. Sommer

Wir schreiten einen Raum weiter in die Küche, wo Sophie Jungs „Schwarzwälder“-Aquarelle die Wandvertiefungen links und rechts des Fensters zieren. Einer der beiden Dargestellten, mithilfe eines dünnen Holzastes an die Wand gebannt, stupst einen Biber an. Tatsächlich hat sich ein Biber im anliegenden Bach angesiedelt; mit etwas Glück kann man ihn durch das Küchenfenster beobachten oder seinem raschelnden Werkeln an ruhigen Abenden im Garten lauschen. Die Tiere sind aber in diesen Breiten nicht immer willkommene Gäste. Dabei wäre das Problem einfach gelöst: Man muss bloß zwischen den Spezies Brücken bauen – oder Dämme. „Like a dam over troubled water“, singt die in Basel und London lebende Künstlerin Sophie Jung bei ihrer Performance zur Ausstellungseröffnung im Kostümzimmer im zweiten Stock. Sie steht dabei hinter einer gegen die Wand gelehnten Rutsche, die sie mit ihrem Partner und Kollaborateur Peter Burleigh in der Region aufgespürt hat.

 

nabbteeri, Zerbrechliche Mutanten (Mutant and Nondurable), 2022, Foto: E. Sommer

Ihren gebührenden Auftritt hat die Lenzkircher Pflanzenwelt außerdem bei den regionalen Zutaten für Julia Rublows Cocktails, die zu einer der Samstagsveranstaltungen im BIA Anfang August serviert wurden. Julia Rublow, eine in Wien und Südtirol lebende Künstlerin, bereitete an dem Tag Getränke aus ihrem Cocktail-Künstlerinnenbuch You don’t put a saddle on a mustang (Cocktails A-Z) zu. Die Drinks heißen etwa „Greatest of All Time“ und „Qualle“; das Besondere an ihnen sind nicht nur die eigenwilligen, geschmacklich funkelnden Rezepturen, sondern auch die vorgesehene Zubereitung. Für die Qualle geht man in den Wald, pflückt mit bloßen Händen frische Brennnesselblätter, spürt das Ziehen und Kribbeln auf der Haut. Daraufhin legt man die Blätter ein, einmal in Gin und einmal in Wasser, und mischt den Cocktail an (hier kommen noch Maraschino und ein paar Tropfen Orangenbitter hinzu), serviert wird er am besten in einem kelchartigen Glas mit einem einzelnen – entsprechend großen ­– Eiswürfel. Ohne Alkohol geht es auch: Für den Greatest of All Time, abgekürzt G.O.A.T, wurde frische Ziegenmilch vom nahegelegenen Hof geholt, mit selbstgemachtem Salbeisirup vermischt und in einem filigranen Glas mit getrocknetem Lorbeerblatt gereicht. Das Klirren der Gläser und das Stimmengewirr der Gäste wurde dabei stellenweise vom Klimpern eines Flügels übertönt, den Julia Rublow als Teil der öffentlichen Veranstaltung professionell stimmen ließ.

Julia Rublow, Cocktail-Zubehör und Künstlerinnenbuch You don’t put a saddle on a mustang, 2022, Foto: E. Sommer

Auch die Forellen-Bouillabaisse, die der in Zürich ansässige Künstler Stefan Burger aus Erzeugnissen der lokalen Umgebung kreierte, zeugt von einer Wertschätzung regionaler Gewächse, wie auch das Pflanzenregister, das Sarah Lehnerer während ihres Aufenthalts anzufertigen begann und am zweiten Veranstaltungssamstag präsentierte.

 

Sichtbar wird bei alldem nicht zuletzt ein spannungsgeladenes Verhältnis zwischen dem Menschen und den Ökosystemen, in die er sich einschreibt. Es stellt sich die Frage, wie lange die im Register festgehaltenen Gewächse wohl noch in dem Gebiet gedeihen werden, bevor ihnen klimatische Umwälzungen zusetzen, und inwieweit wir als Menschen derartigen Veränderungsprozessen gewachsen sind. Die in Arbeiten von nabbteeri häufig auftretenden Gliederfüßer sind ein Sinnbild derartiger Verschiebungen, zumal sie hoch empfindsam auf diese reagieren, sich aber auch mit großer Agilität an sie anpassen können. Auch Stefan Burgers Fotoarbeit Veranderung bietet einen geeigneten Resonanzraum für derartige Überlegungen. Wie im Titel angedeutet, führt oft das „Othering“, die Bewertung  des „Anderen“ als fremdes und stummes Wesen, dazu, dass ein auf gegenseitiger Anerkennung beruhendes Verhältnis unter verschiedensten Lebewesen so häufig misslingt.

Stefan Burger, “Veranderung”, 2022, C-Print, Foto: E. Sommer

Veranderung macht zudem auf einen weiteren zentralen Drehpunkt der im BIA entstandenen Werke aufmerksam. Gemeint ist die Schnittmenge von Erinnerung, Alltag und gelebter Erfahrung, und sie scheint gefangen und zerrissen zwischen den zwei Polen des Einsamen und Gemeinsamen. Die in einer Ofenform im Bach einweichenden Servier- und Schöpflöffel der Fotoarbeit lassen etwa an eine Festgesellschaft denken, deren Spuren bald hinweggespült werden. Die implizierte Geselligkeit spießt sich mit der Abgeschiedenheit der verwaisten Besteckkomposition; dabei rekurriert sie nicht nur auf die Anfänge des Hauses Waldfrieden, in früheren Zeiten eine Löffelschmiede und deshalb direkt am Bach gelegen, sondern deutet auch auf seine jüngere Funktion als Ferienpension und Gaststätte hin.

 

Auch Melittas malerisches Werk kreist vielfach um diesen Themenkomplex aus Heimeligkeit, Gastwirtschaft, Geselligkeit und Isolation. Es umfasst gespenstische Selbstbildnisse in kontrastreichen Farbtönen, schillernd inszenierte Stillleben und bewegte Einzelstudien von häuslichen Gegenständen, in ihrem Duktus und Farbspiel so expressiv, dass man von Porträts sprechen möchte. Melittas Gemälde sind dabei selbst Souvenirs, die, so meint man, jederzeit einen reißenden Strom aus Erinnerungen lostreten könnten. Sie bieten aber auch gewitzte Perspektiven auf Gewohntes und Gewöhnliches, Variationen des Alltäglichen, die das Haus Waldfrieden zum Flimmern bringen. Bei einem Besuch im BIA wird das etwa dann deutlich, wenn man plötzlich aus einem Glas trinkt, das man gerade eben in einem Gemälde gesichtet hat, oder wenn man sich an denselben Heizkörper lehnt, vor dem sich Melitta einst in einem trübseliges Selbstporträt dargestellt hat. Mit geschärftem Bewusstsein und Lust an der Entdeckung nimmt man das Haus und seine Objekte wahr.  

 

Dieses Flimmern, der Witz, das Nachspüren von Geschichten: Das sind die Qualitäten, die eine assoziationsreiche Brücke schlagen zwischen Melittas Waldfrieden und dem Sitz des Black Forest Institute of Art (BIA), das es heute ist. Es sind auch die Qualitäten, die die Werke der teilnehmenden Residents als gemeinsame Nenner verbinden. Wie ein Akkordeon fächert schließlich die Gruppenausstellung die verschiedenen Erlebnisse während der Residency auf und lässt sie erklingen.

Sarah Lehnerer, I hug you from the hot crack. 8.8.22-21.8.22, 2022, Foto: E. Sommer

Die Kurator*innen Magdalena Stöger und Leon Hösl haben das Haus Waldfrieden in eine feinfühlig, verspielt und eloquent kuratierte Schatzkiste verwandelt. Öffentliche Samstagsveranstaltungen im Vorfeld während der Residency, darunter Performances oder ein gemeinsames Mahl, spielten dabei eine wichtige Rolle, denn der Austausch zwischen den temporären Bewohner*innen des Hauses und einem neugierigen Publikum steckte einen beweglichen Rahmen, innerhalb und entlang dessen das Haus von sich zu erzählen begann. Sie dienten im Laufe des August als Scharnier zwischen der Privatsphäre der Residency, im Zuge derer die Teilnehmenden in Ruhe arbeiten konnten, und dem Dialog mit einem größeren Publikum, der das BIA im Schwarzwald-Gebiet als Ort künstlerischer Reflexion und Gestaltungsneugier verankert. Sie boten auch den teilnehmenden Künstler*innen eine Plattform, ihre Arbeiten in performativem Setting in neue Kontexte, Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge einzubetten. Wenn beispielsweise Stefan Burger seine Suppe mit Zutaten und Darbietungen aus der Umgebung kreiert oder Kräuter und Zitronenschnitze in Emaille-Schüsseln von Sarah Lehnerer offeriert werden, die den Abdruck diverser Körperteile der Künstlerin tragen, so steht dies nicht nur im Zeichen eines Besinnens auf bestehende künstlerische Interessen und Arbeiten, sondern auch für deren ortsspezifische Reaktivierung und Erweiterung. Damit wird der Grundimpuls von Orbs und Souvenirs aufgegriffen, Spuren von gestern im Heute eine erneuerte Fähigkeit zur Verständigung zu leihen.

 

Die ständige Präsenz von Werken Melittas und Wilhelm Schnarrenbergers bietet weitere Perspektiven und Farbtupfer, die die in Lenzkirch entstandenen Werke und Performances nun mit sich tragen. Die Vergangenheit des Hauses als Ferienpension und ruhig gelegenes Künstlerinnenatelier im Schwarzwald, die in der Malerei Melittas verarbeiteten Themen und Motive, der Flügel im Salon, die Puppe auf dem Wohnzimmertisch, die Besonderheiten der mit je eigenem Charakter eingerichteten Zimmer, die Klanglandschaft im Garten und entlang des Bachs: Dies alles bietet Resonanzraum und Weidelandschaft für die teilnehmenden Künstler*innen während ihrer Residency und für die Besucherinnen der noch bis Ende Oktober laufenden Ausstellung. „Orbs und Souvenirs“ – in der Tat.

Orbs und Souvenirs
17/09 – 12/11/2022

Kuratiert von Magdalena Stöger und Leon Hösl
mit Stefan Burger, Sophie Jung, Sarah Lehnerer, nabbteeri und Julia Rublow sowie Germaine Hoffmann, Melitta, Wilhelm Schnarrenberger und Gästen
Im Garten: Hanna Burkart, Social Sculpture Club, 2022, provided by DELPHI_space

Black Forest Institute of Art
Löffelschmiede 2
79853 Lenzkirch