Parzellierung: Sung Tieu bei Trautwein Herleth
Berlin
24–07–2024
by Kat Ripea

In ihrer Einzelausstellung Perfect Standard untersucht Sung Tieu die infrastrukturellen und bürokratischen  Kontrollmechanismen aus der Kolonialzeit, insbesondere in der ehemaligen Kolonie Französisch-Indochina. Dabei modelliert die deutsch-vietnamesische Künstlerin ein feines Netz aus den latenten Verbindungen zwischen Metrisierung, ökonomischer Ausbeutung und der Beschaffenheit und Persistenz des Kolonialtraumas. 

Sung Tieu, Perfect Standard, Installation view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Entlang der Wände des Hauptraumes der Galerie Trautwein Herleth sind in Brusthöhe zwei Reihen Kanthölzer installiert. Eine filigrane Gravur auf diesen Arbeiten und eine pfadhafte Anordnung aus schwarzen Gummimatten, die sich auf dem Boden der Galerie befinden, führen den Blick der Besucher*innen eng entlang der Wand durch den spärlich ausgestatteten Ausstellungsraum. Der so vorgezeichnete Weg führt an einer ordentlich aneinandergereihten Gruppe grüner Kanister und einem gerahmten Brief vorbei. Er endet im Nebenraum, in dem sich zwei Stahlplatten befinden, die mit je einem Gitter an Filmstills säuberlich bedruckt sind. Die starke Linien- und Rasterhaftigkeit der Werke und der übersichtliche Ausstellungsaufbau schaffen einen Eindruck von Orientierung, Geometrie und Ordnung, der auf den zweiten Blick durch eine widerspruchsvolle Formensprache zunehmend ins Gegenteil verkehrt wird.

Sung Tieu, Anti-Trauma Walk, 2024, 40 x 40 cm rubber mats and French Indochinese coins. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Unmittelbar im Türrahmen lädt Anti-Trauma Walk, bestehend aus quadratischen Kautschukmatten, zum Betreten ein. Auf der Oberfläche des Gummigranulats, das heutigen Waschmaschinenunterlagen ähnelt, sind Münzen der französisch-indochinesischen Kolonialwährung Piastre de Commerce eingearbeitet. Die willkürliche Streuung der Münzen und die dissonante Materialkombination entziehen sich zunächst jeder Logik. Doch die pfadhafte Anordnung der Arbeit lässt eine intentionale Dramaturgie im Ausstellungsraum entstehen – follow the money.

Sung Tieu, Perfect Standard, Installation view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Die vier Skulpturen aus je zwei übereinanderliegenden Reihen aus Kantholz, die neben Anti-Trauma Walk entlang der Wände führen, bilden eine Werkreihe. Die Arbeiten referieren auf ein präkoloniales südostasiatisches Messinstrument, den Messstab für Land (vietn. thước đo đất). Seine ursprüngliche Länge von 47 cm, welche mit den unteren Kanthölzern korrespondiert, wurde im Zuge der administrativen und kulturellen Assimilationspolitik auf 40 cm herabgesetzt, als im damaligen Französisch-Indochina 1897 das metrische System eingeführt wurde. [1] Dies entspricht der Dimension der oberen Leisten, wodurch dieser Schwund räumlich erfahrbar wird: Die Anordnung der Kanthölzer beginnt auf der linken Seite bündig mit der Galeriewand, aber nach rechts weitergeführt erreicht nur die untere Reihe der Stäbe das Ende der Wand. In diesen mehrdeutigen Verlustraum führt Anti-Trauma Walk hinein, anschließend beginnt der Prozess an der nächsten Wand von vorne.

Die willkürliche Maßänderung unter dem Vorwand der metrischen Normierung hat Frankreich auf dem Papier ein überschüssiges Land von fast 15% eingebracht. Gleichzeitig konnten höhere Steuern auf bereits genutzte Flächen berechnet werden, da mit dem verkürzten Stab auf dem gleichen Gelände mehr Maßeinheiten gemessen wurden als zuvor. [2] Der Messstab ist hier also ein technokratisches Mittel, um ökonomischen Wert und kapitalistisch steigenden Profit in der auf maximale wirtschaftliche Ausbeutung angelegten Kolonie herzustellen. 

Sung Tieu, The Ruling (Indochinese Rubber Company Groups), 2024, 47 cm and 40 cm rulers. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Die erste Skulptur der vierteiligen Werkreihe, The Ruling (Indochinese Rubber Company Groups), konkretisiert das wirtschaftliche Interesse Frankreichs am großflächigen Anbau von Kautschuk, welcher seit dem Boom der Automobilindustrie in den 1880er Jahren in Europa enorm gefragt ist. In die obere Holzleiste ist eine fortlaufende Tabelle französisch-indochinesischer Kautschukkonzerne eingraviert, die in kapitalistisch-spekulativer Manier nach Produktivitätspotenzial in absteigender Reihenfolge genannt werden. Die Gravur endet nach dem vermeintlichen Ende dieser Auflistung, die Informationen über das koloniale Vorgehen beschränken sich auf diese kurzen Statistiken – es entsteht eine inhaltliche Leere entlang der übrigen gravurlosen Kanthölzer. Der doppeldeutige Titel, welcher „Die Messung“ ebenso wie „Die Herrschenden“ oder „Das Urteil“ meinen kann, unterstreicht die Instrumentalisierung der Metrisierung und die damit verbundene ökologisch-ökonomische Beherrschungsmaschinerie in der Kolonie. 

Sung Tieu, The Ruling (Indochinese Rubber Company Groups), 2024, Detail view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Die untere Holzleiste von The Ruling (Indochinese Rubber Company Groups) wird durch eingravierte Linien in zunehmend kleinere Quadrate eingeteilt – bis am Ende ein engmaschiges Netz vorliegt. Die Fläche wird wie das Land kartografisch parzelliert, die Bevölkerung verliert immer mehr und wird segmentierter, ausgebeuteter, beengter. Die Logik des Musters scheint zunächst absehbar.

Sung Tieu, The Ruling (Tax Burden in Indochina), 2024, Detail view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Doch die nächste Arbeit, The Ruling (Tax Burden in Indochina), beginnt mit einem Karomuster, das zwar entfernt mit dem Quadratraster der ersten Arbeit verwandt ist, aber nicht direkt mit ihm in Verbindung gebracht werden kann. Die Geometrie macht im Folgenden weitere Ver- und Entdichtungen durch, die Art des Musters wechselt mehrmals. Unter dem Zwang dieser unvorhersehbaren, willkürlich eingreifenden Ordnungssysteme geht die Orientierungsfähigkeit verloren – und doch treibt das immer gleiche Quadrat der Kautschukmatten die Betrachter*innen unaufhaltsam vorwärts und verhindert damit die Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Grundlagen sowie den psychischen Auswirkungen der ökonomischen Realitäten in der Kolonie. Das Raster, eine klassische Art, Land ebenso wie Leinwand zu organisieren, nutzt Tieu gegenläufig zum objektiven Logikanspruch der Minimal Art, um kognitive Dissonanz, Orientierungsverlust und Unlogik abzubilden. Tieus Rückgriff auf Minimalismus und Abstraktion reiht sich hier in einen dekolonialen Diskurs ein, der diese künstlerischen Formensprachen im Zusammenhang mit der kolonial-imperialistischen Geschichte des 20. Jahrhunderts problematisiert. [3]

Sung Tieu, Quốc Monopolô, 2024, Detail view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Während die Ruling-Reihe die psychische Destabilisierung der Kolonisierten vermittelt, greift Tieu ebenso die Situierung ihres großteilig weiß-westlichen Kunstpublikums auf. In Quốc Monopolô (dt. „Staatsmonopol“ oder „Nationales Monopol“, 2024) leitet die Materialinformation der Werkliste dazu an, in einem der 24 ordentlich aufgereihten Kanister Drogen zu vermuten: „23 gas canisters filled with gasoline, 1 gas canister filled with drugs.“ In dieser Betrachtung wird genau der koloniale Blick reproduziert, den der ausgestellte Brief beschreibt: Im Juli 1904 bat der Verfasser eine administrative Autorität um die Aufklärung eines Vorfalles, bei dem seine Kupfergefäße während einer scheinbar spontanen Hausdurchsuchung ohne jegliche Beweise als Behältnisse der illegalen Alkoholdestillation eingeschätzt wurden. Folgen wir reflexartig der Befehlskette des kuratorischen Textes und spekulieren, welcher Benzinkanister die Drogen enthält?

Sung Tieu, Quốc Monopolô, 2024, Detail view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Das Material Benzin, insofern es tatsächlich präsent ist, und die olivgrünen Kanister erinnern in der Installation zusammen mit dem Material Kautschuk an Militärfahrzeuge und damit an die Präsenz der Besatzung. Doch ähnlich wie die Kolonialstatistiken der Ruling-Arbeiten, die die ökonomischen Realitäten der Bevölkerung nur zwischen den Ziffern andeuten, weist der Inhalt des Briefes nur vage und indirekt auf die systemische und willkürliche Gewalt hin. Wie aus einer Position heraus betrachtet, die noch weit von der Erkenntnis der Gesamtzusammenhänge entfernt ist, bleiben die Assoziationsketten der Werke undeutlich und kleinteilig.

Sung Tieu, Perfect Standars, Installation view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 

Sung Tieu, Anti-Trauma Walk, 2024, Detail view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Auf dem Weg zum Nebenraum lässt die hinter den Säulen verborgene Audioinstallation Wind’s Return zischende Laute dort erklingen, wo sich in Anti-Trauma Walk die Münzen häufen. Die Geräusche sind nicht klar einzuordnen und rhythmisieren analog zu den Ruling-Gravurrastern unabsehbar. Ist es sicher, sich nach den Münzen zu bücken? Was lauert dahinter und was passiert danach?

Sung Tieu, The Opposite of Good is Good Intentions, (Second One), 2024, 200 x 100 cm, silkscreen print on stainless steel. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Während die Audiospur uneindeutig und inhaltlich undurchdringbar bleibt, stellt The Opposite of Good is Good Intentions (Second 1) im zweiten Raum der Galerie den historischen Zusammenhang zu Anti-Trauma Walk her. Die siebgedruckten Filmstills stammen aus einem frühen Kolonialfilm von 1899, angefertigt von einem Assistenten der Brüder Lumière. Diese zeigen die Frau des Generalgouverneurs mit ihrer Tochter in Hanoi, wie sie geringwertige Piaster vor Kindern auf den Boden werfen, damit diese sich nach den Geldstücken bücken. [4] Diese erniedrigende Geste stand für die angebliche Philanthropie Frankreichs in der Kolonie – die Filmaufnahmen wurden 1900 auf der Weltausstellung in Paris gezeigt. 

Auch hier verliert sich der betrachtende Blick in der Serialität der Frames, die den Moment auf dem unnachgiebig glatten Edelstahl in eine zeitlose Länge ziehen. Die feinen intrasekündlichen Unterschiede lassen sich semantisch nicht fassen, die Aufnahmen verlieren ihre dokumentarische Klarheit. Durch das äußerst grobe Halbtonraster des Drucks ist die Figuration nur aus der Ferne erkennbar – die Ganzheit des psychischen Traumas erschließt sich erst aus einer gewissen Distanz. Erst mit kritischem Abstand lassen sich die fragmentarischen Assoziationen zusammenfügen. Die Anhäufung eben solcher Piaster in Anti-Trauma Walk transponiert den Münzwurf geisterhaft in den Galerieraum und damit in die Gegenwart. Ihre Präsenzmachung verweist auf die transgenerationale Weitergabe von Traumata und die neokoloniale Kontinuität wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse, wie in der fortwährenden Kautschukproduktion Südostasiens für den globalen Markt. [5] In den Gummimatten deuten sich damit die kolonialen und geopolitischen Ursprünge an, die noch die heutigen Strukturen des Kapitalismus bestimmen.

Schaut man direkt vor The Opposite of Good is Good Intentions nach unten in Richtung des evozierten Münzwurfes, verschwimmt die Oberfläche zu einem undifferenzierbaren Graublau; die abgebildeten Kinder entziehen sich dem Blick der Betrachter*innen, wenn letztere sich durch die Fremddarstellung hindurch verbinden wollen. In den Verfremdungen findet Tieu einen Umgang mit den gewaltsamen Filmbildern, der ihren Inhalt transportiert und gleichwohl eine Reproduktion des kolonialen Blickes abwehrt.

Sung Tieu, The Opposite of Good is Good Intentions, (Second Two), 2024, 200 x 100 cm, silkscreen print on stainless steel. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Die zweite Druckplatte der Filmstills, The Opposite of Good is Good Intentions (Second 2), hängt an der linken Wand mit dem nötigen Abstand, um die Figuration zu erkennen: Die Betrachter*innen können jetzt klar die Szene ausmachen, die exemplarisch für die Ursprungszeit des Kolonialtraumas steht. Hier endet Anti-Trauma Walk – die sinnbildliche Geldspur konnte von der Gegenwart zu ihrem historischen Ursprung zurückverfolgt werden. Die Aufarbeitung und Reflexion der kolonialen Gesamtzusammenhänge, einschließlich der mit ihnen verbundenen Traumata, kann beginnen.

Sung Tieu, The Ruling (French and Total Population of Indochina), 2024, 47 cm and 40 cm rulers. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 

Sung Tieu, The Ruling (French and Total Population of Indochina), 2024, Detail view. Image courtesy of the artist and Trautwein Herleth, Photography: Jens Ziehe 


Verlässt man den Nebenraum und damit Anti-Trauma Walk, führt die letzte Arbeit der Ausstellung, The Ruling (French and Total Population of Indochina), mit der größten Klarheit der Werkserie die Grundlage von Kolonisierung vor: Eine kleine Elite dominiert mit vielfältigen Mitteln eine riesige Mehrheit an Menschen – psychologisch, ökonomisch, per Prokura, festgeschrieben in anhaltenden globalen Kapitalströmen und fragmentiert-traumatisch nachhallender Erinnerung.

[1] Nicholas Tammens, Sung Tieu. Perfect Standard, 2024, Link (last accessed 02.06.2024), S. 2.

[2] Ebd.

[3] Hank Willis Thomas & Sarah Meister, Hank Willis Thomas’s Colonialism and Abstract Art, 2020, Link (last accessed 02.06.2024).

[4] Michelle Aubert & Jean-Claude Seguin, Enfants annamites ramassant des sapèques devant la pagode des dames, 2013, Link (last accessed 02.06.2024).

[5] Michitake Aso, Rubber and the Making of Vietnam: An Ecological History 1897–1975, 2018, S. 283.




PERFECT STANDARD
Sung Tieu

27/04 – 8/06/2024


Galerie Trautwein Herleth

Kohlfurter Strasse 41/43

10999 Berlin