Raphaela Vogel und die weibliche Potenz der Malerei
Kunsthalle Gießen
19–02–2021
by Ramona Heinlein

Raphaela Vogel, "INSIDEOUT", Kunsthalle Gießen, 2020, installation view, photograph: Rolf K.Wegst

Wie skeletthafte Kreaturen stehen weiße Silikonabformungen von Urinalen in zwei schräg aufeinander zulaufenden Reihen hintereinander. Die Objekte gleichen sich und doch ist jedes ein wenig anders. Ihre wächserne Oberfläche ist detailreich, das hinabrinnende Material scheint wie in Bewegung festgehalten. Überragt werden sie von einer gestisch bemalten Collage aus Tierhäuten, die die Wand fast vollständig einnimmt. Spitz nach unten zulaufend und an die Form einer Zahnwurzel erinnernd, strahlt die Arbeit eine kraftvolle Signalwirkung aus.
Die Werke, die aktuell im Schaufenster der Kunsthalle Gießen zu sehen sind, stammen von der Künstlerin Raphaela Vogel. Die monumental große Collage aus Elch- und Kuhhäuten trägt den Titel Zahn (2016) und ist gerade aus der Perspektive der Malerei interessant. Sie ist nicht einfach nur Bild, sondern dezidiert auch Objekt. Das Werk hängt, an den oberen Ecken befestigt, herab, seine Ränder wölben sich. Es bildet keinen in sich geschlossenen flachen Bildraum, keine zweite Wirklichkeit. Stattdessen ist die Haut installatives Element, entblößt sich förmlich selbst, nackt, und berührt dabei den Raum auf fließende und zugleich einnehmende Weise.
Als Träger einer verwilderten abstrakten Malerei unterscheidet sich dieser Grund fundamental von der traditionellen rechteckigen Leinwand. Die klassische körperlose Fläche, die der Künstler (!) zu füllen vermag und damit verschwinden lässt, ist für die moderne Vorstellung des (männlichen) Genies zentral, kann so doch jede malerische Spur – gemäß einer Voraussetzungslosigkeit des Schaffensprozesses – als direkter authentischer Impuls des aus sich schöpfenden Künstlers gewertet werden.
Vogel stellt dieser idealistischen Auffassung von Malerei eine archaische Körperlichkeit, eine organische Wucht entgegen, die zugleich etwas Elendes, Makaberes und Unheimliches an sich hat. In ihrer Arbeit ist der Bildträger nicht neutrale, metaphysische Leere, sondern selbst buchstäblich Leib – Haut als Grenzmaterial: löchrig, wellig, beschmutzt, von viszeraler, affektiver Materialität.
Mit dieser Malerei geht eine gewisse Formlosigkeit einher, eine Unreinheit, eine abjekte Energie, auch weil sie jeden sauberen Idealismus destabilisiert. Der Farbauftrag ist fleckig, „de-skilliert“, die matschigen Erdtöne scheinen wie mit den Händen verschmiert. Die Künstlerin muss über das Leder gelaufen sein, Fußabdrücke sind zu sehen. Die Spuren im oberen Bereich des Dreiecks sehen aus, als hätte die Künstlerin die Farbe, über die Haut gebeugt, auf ihr kniend, mit vollem Körpereinsatz und gestreckten Armen von den oberen Ecken in die Mitte gestrichen.
Eine besondere Sinnlichkeit geht von dieser Malerei aus, die wie die Spuren eines physischen Aktes anmutet, als hätte sich hier ein ekstatischer Tanz zugetragen – die Haut als Arena. So atmet auch das fertige Werk noch die Potentialität seiner Entstehung. Dabei erinnert die Dreiecksform der Arbeit, die immer wieder im Werk der Künstlerin auftaucht, an die weibliche Scham und verbindet so die rohe Energie ihrer Malerei mit einer dezidiert weiblichen Bildsprache. Im Vergleich dazu sieht die männliche Armee der Pissoirs seltsam klinisch und blutleer aus, eine gewisse Fragilität haftet ihnen an. Nicht zuletzt durch ihren Titel, Uri (2018), wird ihnen zugleich eine humorvolle Verniedlichung zuteil.

Raphaela Vogel, Uri, 2018, Kunsthalle Gießen, "INSIDEOUT", 2020, installation view, photograph: Rolf K.Wegst

Raphaela Vogel, die an der Kunstakademie in Nürnberg und an der Städelschule in Frankfurt studiert hat, eignet sich in ihrem intermedialen Werk, das Skulptur, Malerei, Video und Sound verwebt, immer wieder die phallische Form und die männliche Raumnahme an. In ihrem Werk tauchen Drohnen genauso auf wie Elemente aus öffentlichen Großveranstaltungen, darunter Schienen, Stahlträger oder Urinale. Diesen maskulinen technischen Komplex lässt sie auf den weiblichen Körper treffen, vorzugsweise ihren eigenen, und thematisiert dabei männlich konnotierte Blickregime und Bildpolitiken.
In ihren teilweise schwindelerregenden Videos taucht die Künstlerin häufig selbst als Protagonistin auf, in manchen Werken ist ihre singende Stimme zu hören. Vogels Œuvre hat eine exhibitionistische Qualität, das Sich-Aussetzen, Zeigen und Entblößen sind immer wieder Teil ihrer Inszenierungen. Es geht um Macht, genauso wie um Verletzbarkeit. Dabei werden Dynamiken des Sehens und Gesehenwerdens, des Dominierens und Dominiertwerdens, von Subjekt und Objekt subversiv untergraben. Die Verwendung feministischer Motive, die das Werk der Künstlerin ebenso prägen wie das Phallische, kann nicht nur als Zitat verstanden werden.
Die Malerei Vogels, wie wir sie in Gießen sehen, ist nicht einfach nur eine coole Kritik im endlosen „Endgame“ des klassisch männlichen Mediums und der damit verbundenen Fantasie von viriler Potenz, sondern auch eine Ermächtigung von anarchischer Kraft. So thront die Dreiecksform förmlich über den Uris, die aussehen, als seien auch sie geblendet von der Potenz, die die weibliche Form ausstrahlt – nicht die althergebrachte heroische Potenz eines auktorialen Subjekts freilich, und doch eine widerständige.
Raphaela Vogels Installation, die im Zuge der ersten Schaufensterausstellung der Serie INSIDEOUT in der Kunsthalle Gießen zu sehen ist, wurde von Gesine Borcherdt kuratiert. Ihr werden bis April 2021 zwei weitere Präsentationen, von Veit Laurent Kurz und CargoCult, folgen. Während der Besuch von Kunst- und Kulturinstitutionen in diesen Tagen pandemiebedingt nicht möglich ist, holt die Serie INSIDEOUT die Kunst aus dem verschlossenen Innenraum förmlich nach außen und macht sie von der Straße aus wahrnehmbar.

Raphaela Vogel, "INSIDEOUT", Kunsthalle Gießen, 2020, installation view, photograph: Rolf K.Wegst

Raphaela Vogel - #1 INSIDEOUT
1. Februar – 25. Februar
Kunsthalle Gießen
Berliner Platz
135390 Gießen