Texturen des Begehrens
Leda Bourgogne
FRAGILE, Berlin
11–12–2022
by Marie-Sophie Dorsch

Leda Bourgogne, "Tyranny of Tenderness", FRAGILE, Berlin, installation view, 2022



Bereits im Treppenhaus ist der Sound zu vernehmen, der aus der Ausstellung „Tyranny of Tenderness“ der Künstlerin Leda Bourgogne dringt, die zuletzt bei FRAGILE in Berlin zu sehen war. Worte, von tiefen Klängen unterlegt und rhythmisiert durch mechanische Geräusche. Mit dem Betreten der Ausstellung rücken jedoch zunächst drei Aluminiumstangen ins Blickfeld. Zwischen Decke und Boden eingezogen, durchbohren sie verschiedene Bücher. Doch trotz dieser raumgreifenden Installation bleibt es der Sound, der die Bewegungen lenkt. Er kommt aus dem Inneren eines grauen, kantigen Briefkastens. Um der Narration folgen zu können, muss man nah an das Werk Edge of Desire (2022) herantreten. Es fordert einen Augenblick des konzentrierten Innehaltens. Eine Stimme erzählt von Momenten des Begehrens, von Liebe, von Verlangen, dem Verlorengehen von Intimität und (unerfüllten) Sehnsüchten. Bei dem Vorgetragenen handelt es sich um drei Gedichte der Künstlerin. Die Flüchtigkeit der Worte sowie ihr poetischer Inhalt stehen in einem deutlichen Kontrast zur stoischen Permanenz und geometrischen Nüchternheit des Briefkastens. Nach zwölf Minuten herrscht plötzlich Stille, die den intimen Raum zwischen Werk und Zuhörer*in auflöst.

Leda Bourgogne, Edge of Desire, 2022



Sich weiter in die Mitte des Hauptraumes bewegend, lassen sich die Titel der von den Stangen durchstoßenen Bücher identifizieren. Bourgogne versammelt Publikationen von Autor*innen wie Olivia Laing, Anne Carson, Michel Foucault, Louise Glück oder Édouard Louis – Lektüre, die sie selbst zuletzt gelesen hat. Wem die Titel vertraut sind, weiß, dass sie unterschiedliche Perspektiven auf das Begehren, den Körper sowie sein Verhältnis zur Sexualität oder Identitätspolitiken zum Inhalt haben. Immer wieder prägen Psychoanalyse, Literatur, Philosophie oder feministischer Theorie die künstlerische Praxis von Bourgogne und erweitern ihre Arbeiten um literarische Zugänge. Gleichzeitig fragt die Künstlerin durch die bewusste Offenlegung dieser Referenzen aber auch, was sich hinter der semantischen Oberfläche von Sprache verbirgt. Die Präsenz der Bücher veranschaulicht nicht nur vorausgegangene Recherche- und Denkprozesse – vielmehr wird Sprache mit neuen künstlerischen Ausdrucksformen begegnet. Bourgognes Arbeiten verbildlichen und versinnlichen die Texte und übersetzen ihre Inhalte in spannungsvolle räumliche Beziehungen. Lineare Narrationen und linguistische Ordnungssysteme werden aufgebrochen, wodurch die Künstlerin Freiräume schafft, in denen erweiterte Deutungsperspektiven und mehrschichtige Assoziationsketten entwickelt werden können.

So finden sich in der Ausstellung beispielsweise zarte Texturen, die Verletzungen aufweisen oder sich harten und abweisenden Oberflächen gegenübergesetzt sehen. Diese Verknüpfung verschiedener Materialien eröffnet einen Rahmen, der nicht zuletzt zum Nachdenken über die fragile Beschaffenheit von (Liebes-)Beziehungen sowie die Verwundbarkeit von Körpern und Identitäten anregt.

Leda Bourgogne, Alphabetic Edge, 2022




Ein zentraler Ausgangspunkt für Bourgognes Auseinandersetzung mit Aspekten des Begehrens wird auch im ausstellungsbegleitenden Text hervorgehoben. Es handelt sich um die Publikation Eros. The Bittersweet: An Essay (1986) der Altphilologin und Dichterin Anne Carson. Diese widmet sich dem Begehren (Eros) und spürt seiner Darstellung in Kunst, Literatur und Gesellschaft von Antike bis Gegenwart nach. Sprache sieht Carson dabei als besonderes Mittel, um Begehren zu artikulieren. In ihren Ausführungen bezieht sie sich insbesondere auch auf ein Textfragment der antiken Dichterin Sappho, die Begehren als ein gleichzeitiges Erleben von Lust und Schmerz definiert – als „bittersüße“ Erfahrung. Carson stellt heraus, dass Begehren nur existiert, solange ihm eine unerfüllte Sehnsucht zugrunde liegt. Folglich kann es niemals erfüllt werden und nur im Mangel sowie an den Rändern des uns Bekannten seine volle Wirkkraft entfalten. Sie schlägt in der Konsequenz eine trianguläre Struktur des Begehrens vor: „lover, beloved and that which comes between them.“ Das Begehren benötigt einen Grenz- oder Zwischenraum, der die beiden Pole einerseits verbindet und andererseits zugleich voneinander entfernt hält. 


Leda Bourgogne, "Tyranny of Tenderness", FRAGILE, Berlin, installation view, 2022



Der Hauptraum der Ausstellung wird durch einen großen mit Chiffon bespannten Rahmen unterteilt. Spielerisch verbindet die Künstlerin die Möglichkeiten von Malerei und Skulptur hier miteinander und geht über starre Gattungsgrenzen hinaus. Das Bild wird zu einem membranartigen Objekt: zu einem räumlichen Hindernis, hinter dem sich skelettartig die dunklen Holzstreben unter der transparenten Oberfläche des Stoffes abzeichnen. Wie häufig in Bourgognes Œuvre, erinnert auch das Werk Interstice (2022) an das sinnliche Organ der Haut. Nähte überziehen wie feine Narben das Textil und in weichen grauen und grünen Farbschattierungen lässt die Künstlerin ein Geflecht filigraner Linien erscheinen. Die Arbeit erlaubt eine Durchsicht auf den dahinterliegenden Bereich. Mit einem Versprechen lockend, choreografiert das Werk jedoch eindeutig die Bewegungen der Besucher*innen. Hinter den Rahmen gelangen kann nur, wer zunächst einen weiteren Raum durchquert.

Leda Bourgogne, "Tyranny of Tenderness", FRAGILE, Berlin, installation view, 2022



Hier trifft man auf drei weitere Textilobjekte. Insbesondere die Arbeit Clavicle (2022) zieht den Blick auf sich. Mit Metallstreben an die Wand montiert, ragt das Werk in den Raum hinein und scheint vor der Wand zu schweben. Bourgogne hat Chiffon und Samt miteinander vernäht und so Transparenz und Opazität der jeweiligen Stoffe in Kontrast zueinander gesetzt. Mit Bleichmittel entfärbt, zeichnet sich auf dem Samt ein indexikalischer Abdruck des künstlerischen Arbeitsprozesses ab. Auch der Chiffon ist nicht unversehrt geblieben. Feine, eingenähte Fäden scheinen sich am oberen Ende des Bildes aus dem Rahmen hinauszuziehen. Mittels ausgepolstertem Seidensatin entwirft die Künstlerin darüberhinaus aufgenähte Formen, die sich als Andeutungen von Körperelementen wie Schlüsselbein, Brustkorb und Rippen lesen lassen.

Leda Bourgogne, Clavicle, 2022



Mit der Setzung der Werke gelingt es Bourgogne immer wieder, Bögen innerhalb der Ausstellung zu schlagen, die den Besucher*innen unterschiedliche Blickachsen und Lesarten vorschlagen. In direkter Korrespondenz zu Clavicle leitet das Werk Butterfly Effect (2022) den nächsten Raum ein. Man befindet sich nun hinter der transparenten Membran und es beschleicht einen das Gefühl, in das tiefste Innere der Ausstellung vorgedrungen zu sein. Auch in Butterfly Effect arbeitet Bourgogne mit dem Zusammenspiel aus transparenten und opaken Textilien und der Andeutung eines Skeletts. Kleine, ovale, aufgenähte und aufgepolsterte Textilelemente überziehen als Wirbelkette den Stoff. An den Bildrändern verzweigen sich eingenähte Reißverschlüsse wie Nervenbahnen und unregelmäßig geformte Holzpaneele, deren Oberfläche von schwarzem Samt überzogen ist, hängen an den gegenüberliegenden Raumseiten. Die weiche Qualität des Stoffes bricht Bourgogne, indem sie funktionale Objekte wie einen Schlüsselkasten und drei Metallgriffe auf ihrer Oberseite einfasst.

Leda Bourgogne, Butterfly Effect, 2022



Vieles in der Ausstellung „Tyranny of Tenderness“ bleibt rätselhaft, doch das Besondere ist ihre vielschichtige Erfahrbarkeit. Leda Bourgogne evoziert intime und öffentliche Sphären und zieht uns in ein poetisches Feld verschiedener Koordinaten hinein, die es zu entschlüsseln gilt. Auf konzeptueller Ebene nimmt die Künstlerin Bezug auf die von Carson beschriebene Ambivalenz der „bittersüßen“ Erfahrung des Begehrens sowie ihre trianguläre Organisation. So spielt die Zahl drei in der Ausstellung eine wichtige Rolle. Zwischen den drei großen Textilarbeiten, den drei Bücher-Stangen und ihren drei Gedichten lässt Bourgogne Begehren multisensorisch erfahrbar werden. Dabei sind ihre Arbeiten sowohl formal-ästhetisch als auch auf inhaltlicher Ebene von Brüchen, Zwischentönen und Gegensätzen geprägt. Worte und Bilder erscheinen, nur um sich im nächsten Moment zu entziehen und an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Die Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem Begehren, (weiblicher) Sexualität und Intimität manifestiert sich in unterschiedlichen Nuancen und Ausprägungen. Gleichzeitig öffnet Leda Bourgogne Resonanzräume, in denen Ideen nachklingen und erinnert so an das transformative Potential künstlerischer Imagination.

Leda Bourgogne, "Tyranny of Tenderness", FRAGILE, Berlin, installation view, 2022



Leda Bourgogne 
Tyranny of Tenderness
05/11/2022 – 27/11/2022

FRAGILE, Berlin
Leipziger Str. 63
10117 Berlin