Weltuntergangsszenarien scheinen seit jeher mal mehr, mal weniger treffsicher zu sein. Das Ende der Welt rückt, zumindest solange die Sonne scheint, eine Eiskugellänge in den Hintergrund. Das Musiker-Duo Zager und Evans, beispielsweise, besang im Jahr 1969 mit ihrem Song In the year 2525 eine fast apokalyptische Vorschau der nächsten Jahrtausende. Die Vorstellung vom endgültigen Ende der Menschheit wird als dystopischer Ausblick bis ins Jahr 9595 beschrieben. Der Songtext verhandelt die Imagination und damit einhergehende Angst einer Objektwerdung und Selbstzerstörung der Menschheit aufgrund von zunehmender Technologisierung. Der Zukunftsausblick, dass die Menschheit noch mehrere Jahrtausende existieren würde, wirkt wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass 1969 der erste Mensch auf dem Mond landete. Wer hätte damals bezweifelt, dass die Menschheit das Jahr 2525 nicht erleben könnte?
Doch 2020 erscheint einem die Annahme als nostalgische Utopie eines nicht nur vergangenen Jahrhunderts, sondern auch verpasster Chancen. Eine genaue Antwort, wie Technologie die Zukunft und die Menschheit verändern oder bestimmen wird, bleibt unsicher. Im Forschungsfeld der Künstlichen Intelligenz prognostiziert der Wissenschaftler und Futurist Raymond Kurzweil in seiner Publikation The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology (2005), dass ab 2045 der Zeitpunkt gekommen sein wird, an dem Maschinen intelligenter sein werden als Menschen. Zum Glück schafft eine Prognose keine Sicherheit – doch, was hingegen sicher ist: Motten fühlen sich angezogen vom Licht. Welch sorgenfreies Leben? Wohl eher nicht, denn Nachtfalter orientieren sich während des Fluges am weit entfernten Mondlicht und verhalten sich in einem konstanten Winkel zu diesem. Nun steht die Motte vor der Herausforderung und Irritation der Vielzahl an künstlichen und deutlich helleren Lichtquellen und dem daraus hervorgerufenen, kontinuierlichen Kurswechsel, der ihr nicht zuletzt auch das Leben an der heißen Lampe kosten kann. Und wenn es nicht so tragisch wäre, könnte man meinen, Motten sind besonders Burnout–gefährdet.
Die Ausstellung 'Insecure carefree 2 – moths as mess' mit installativen Arbeiten der Künstlerin Wagehe Raufi geht den Betrachtungsmöglichkeiten von Technologie und deren Bezugspunkten zur Realität nach. Der Ausstellungstitel ist in einer Zusammenarbeit der Kuratorin Leonore Spemann mit dem Künstlers Eric Gregory Powell für ein früheres Ausstellungsprojekt im Jahr 2019 entstanden, und nimmt Bezug auf die Arbeit Insicuro Noncurante (Unsicher Nachlässig, 1966–75) des Künstlers Alighiero Boetti. Insicurio Noncurante zeigt als modellhafte Präsentationsanordnung die künstlerischen Werke Boettis zwischen den Jahren 1966–75, in Form eines 81–seitigen, durchnummerierten Portfolios. Jede Seite hat eine innere Autonomie wiederum im Ganzen, umschließt eine Struktur, durch die man eine Ordnung erkennt und nicht zuletzt auch einen kritischen Blick auf die Kunstproduktion selbst legt.
Der sich widersprechende Ausstellungstitel lässt sich in Bezug auf Raufis Arbeiten vieldeutig interpretieren. Die Orientierung der technologischen Forschung an der Natur und die Nachbildung von Bewegungsabläufen von Tieren wie hier, der Motte, ist besonders für die Robotertechnik von Interesse. Wagehe Raufis Assoziationsrahmen der Darstellung der Motte ruft auch unweigerlich das Bild der Mini-Drohne RoboBee ins Gedächtnis, ein Mikro- Roboter, der in seiner Verwendung für künstliche Bestäubung, Datensammlung, Überwachung oder für den Such- und Rettungsdienst geplant wurde, jedoch nach wie vor seinem Schwachpunkt – einer durchgehenden Energieversorgung – unterliegt.
Bei der Vorstellung an fortschreitender Überwachungstechnik in fast unmerkbarer Größe erfasst mich etwas Unheimliches, dass einen wiederum als Besucher*in auch beim Abstieg in die Ausstellungsräume begleitet. Nicht nur durch die räumliche Eigenheit der Schau in einem Keller und dessen geschichtlicher Transformation von einer ursprünglichen Bedienstetenküche, schaffen miteinander agierende Bezüge, – auch körperlich wirkt die Räumlichkeit auf mich ein. Es ist kühl, dunkel und sparsam beleuchtet. Von einem sehr großzügigen Hausflur aus Gründerzeiten geht man als Besucher*in eine steile Steintreppe hinunter bis man an deren Ende angelangt und ähnlich der Motte, von der Anziehungskraft des Lichtes bestimmt wird. Das Augenmerk fällt direkt auf einen Rahmen, der mit an Fliegengitter erinnernden Gazestoff überspannt ist und von einem 3D–Hologramm-Projektor beleuchtet wird. Fragil und zerbrechlich lehnt der Rahmen wie eine singuläre Riesenwabe, großflächig an der Wand. Der Materialität der Projektionsfläche steht die Immaterialität des sich nach rechts und links schwenkenden Hologramm–Porträts der Künstlerin gegenüber. Die Konzentration im ersten Ausstellungsraum scheint auf einer physischen An- und Abwesenheit von Materialität und Oberfläche zu liegen. Rechts neben dem Rahmen hängt ein überdimensionierter, weißlicher Mottenkopf an der Wand, dessen sehr feine Gipsstruktur zu erkennen lässt, dass dieser eine Reproduktion eines 3D-Druckes ist. In Wagehe Raufis Arbeiten werden mittels 3D–Modellierung und Abgussverfahren – per Software und von Hand – das Künstliche ins Natürliche, das Analoge ins Digitale über– und zurückübersetzt. Auf der gegenüberliegenden Wand des Rahmens befindet sich eine malerisch–objekthafte Materiallandschaft, die sich beispielhaft als digital übertragende Fläche in den Videoarbeiten der Künstlerin wieder erkennen lässt und von einem offenem Prozess mit veränderbaren Materialen geprägt ist.
Wagehe Raufi destilliert auf eigenwillig alchimistischen Wegen mittels Hitze aus langsam auftrocknenden Substanzen oder verformbaren Materialien heraus, was trotz permanenter Veränderbarkeit noch übrig bleibt. Nichts ist von Dauer und doch finden sich in jedem Veränderungsprozess, sei er digital oder analog, positive Spuren, Versatzstücke oder Überbleibsel, die aus den Arbeiten Wechselspiele aus nebeneinander agierenden Zeit- und Materialformen, und eine Art Bildspeicher im realen und digitalen Raum bilden. Raufis Interpretation und Hinterfragung von Realität wird durch die Übertragung und Verfremdung von Bildwelten, einer Art kaleidoskopartiges Groß- und Kleinzoomen von räumlich wirkenden Flächen, auch in der Videoarbeit im zweiten Teil der Ausstellung ersichtlich. Als Betrachtende*r blickt man kontinuierlich auf sich selbst auflösende und scheinbar wieder aus sich selbst entspringende Sequenzen aus SciFi-Filmen vor einem schwarzen Hintergrund. Die originalen Filmszenen wurden mittels einer Fotogrammetrie-Software zu einem stummen und kulissenartigen Abbild einer in der Vergangenheit gedachten Zukunft weiterverarbeitet. Die Software filtert aus einer Vielzahl an Bildern und Perspektiven desselben Motivs die markanten Merkmale oder charakteristischen Strukturen heraus. Das Verfahren ähnelt unserer menschlichen, dreidimensionalen Wahrnehmung von Objekten oder Räumen. Die dreidimensional erzeugten Raumansichten in Raufis Video wirken jedoch wie Hohlräume, die sich als permanent wandelnde verselbstständigen. 'OPERATING SYSTEM NOT FOUND‘ erscheint für einen kurzen Moment auf der Bildoberfläche. In einer anderen Sequenz schwebt ein Haus von rechts nach links durch das Bild, danach wird ein Flur sichtbar, der sich auflöst und von einem halbrunden Gang mit bewaffneten Personen in eingefrorener Haltung überblendet wird, welcher sich wiederum in einer Kamerafahrt durch das Innere eines Raumschiffes auflöst.
Das Summen des Hologramm-Projektors aus dem Nebenraum verschmilzt zu einem Gefühl von Gegenwart, das verstärkt durch den Blick auf eine scheinbar endlose Masse von Material, das sich als etwas völlig außerhalb der Realität erfahren lässt. Als Betrachter*in ist man unsicher durch welche Augen man blickt – durch die der Motte, einer Drohne, der Künstlerin oder doch die eigenen? So wird in 'Insecure carefree 2 – moths as mess‘ sichtbar, wie der Zusammenhang und die Bedeutung von Bildern und Objekten unsere eigenen Wahrnehmungen aufgrund unterschiedlicher Materialzuweisungen verschieben kann.
Evan und Zagers besingen die Welt nach 10 000 Jahren als „Now man's reign is through. But through eternal night. The twinkling of starlight. So very far away. Maybe it's only yesterday.“ Vielleicht ist das gestern auch einfach nur das gestern und morgen ist ein anderer Tag? Nur wie würde der morgige Tag aussehen, wenn das Bild von gestern, ein archiviertes Bild, einer ehemals gedachten Zukunft gewesen ist? Unsere Gegenwart ist beeinflusst durch ihre Vergangenheit, die in der Ausstellung als akkumulierte Bildwelt eine Realität sichtbar macht, die eine Vorstellung von Zukunft gedacht hat, die heutzutage unentrinnbar nah erscheint. Vielleicht so nah, dass wenn sich eine Motte irgendwann nicht mehr vom Licht natürlich angezogen fühlt, unsere Wirklichkeit eine erschreckend andere sein kann, als wir gestern noch dachten.
Wagehe Raufi – Insecure carefree 2 - „moths as mess“ 12. – 26. Juni 2020
kuratiert von Leonore Speemann
Varrentrappstraße 69 60486 Frankfurt
Besuch nur über möglich mit vorheriger Anmeldung hier.